Der Kuss des Morgenlichts
unsterblich! Sie können doch nur von ihresgleichen umgebracht werden, nicht, wenn sie von einem Felsen stürzen!«
Nathan fuhr mit der Herzmassage und der Beatmung fort. »Sie ist eben erst sieben Jahre alt geworden, ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen … «
»Aber sie hat doch auch Josephine überlistet! Und sie hat in euren Kampf eingegriffen!«
»Eben«, murmelte er, ohne die Massage zu unterbrechen. »Sie hat alle Kräfte, die sie hatte, verbraucht, und nun sind keine mehr übrig.«
Ich wollte noch etwas sagen, biss mir dann aber auf die Zunge, weil ich wusste, dass es sinnlos war. Ich konnte nicht um das Leben meiner Tochter verhandeln, indem ich einfach nur genügend Argumente aufzählte, ich konnte nur warten, hoffen und bangen.
Nathan löste seine Hände von ihrer Brust, beugte sich wieder über ihr Gesicht. Ich spürte Tränen in meinen Augen aufsteigen und konnte nicht mehr dagegen ankämpfen. Ich sah nicht, dass etwas Farbe auf Auroras Wangen zurückkehrte. Aber ich hörte Nathan erleichtert ausrufen: »Sie atmet! Sie atmet wieder!«
Ich wischte die Tränen fort, kleine Erdklumpen blieben in meinen Wimpern hängen. Ich beugte mich über meine Tochter und konnte ihn nun auch fühlen – den Pulsschlag, leicht und flatternd.
»Wir müssen sie sofort ins Tal schaffen und einen Krankenwagen rufen«, rief Nathan. »Ihr Kreislauf ist schwach. Wenn sie nicht versorgt wird, kann es jederzeit wieder zum Herzstillstand kommen.«
Und wieder Kälte. Zuerst nur als Kribbeln auf der Haut, dann immer schmerzhafter, als würde sie sich bis zum Knochen hindurch in jedes Glied beißen. Endlich war das Tier erschöpft. Seine Zähne gaben ihn zwar nicht frei, aber sie machten keine malmenden Bewegungen mehr. Die Kälte war nun überall, aber er fühlte sie nicht mehr. Er fühlte auch keine Verbitterung, keinen Zorn, keinen Aufruhr mehr. Er hatte verloren – und es war ihm gleich. Sämtliche Gefühle hatten sich im Laufe der langen Nacht erschöpft. Und selbst wenn noch welche da gewesen wären – er würde sie niemals vor Cara zeigen.
Sie stand über ihn gebeugt, das Schwert in der Hand, war wieder stark genug, um damit zuzustoßen. Er konnte sich nicht mehr wehren.
Als Kind hatten sie oft gegeneinander gekämpft. Der Vater hatte es befohlen – genauso wie er ihn angewiesen hatte, Cara rücksichtslos zu schlagen und zu foltern, wenn sie unterlag. Der Vater verabscheute Schwäche und ahndete sie unbarmherzig … nein … ließ sie ahnden. Von ihm.
Meist hatte er den Befehlen Folge geleistet. Aber nicht immer. Manchmal hatte er sie aufgefordert, zu schreien, und sie, anstatt zuzuhauen, mit dem Schwert nur vorsichtig berührt.
Ob sie sich in diesem Augenblick daran erinnerte?
»Tu’s doch, wenn du es kannst«, forderte er sie auf.
Weitere Erinnerungen stiegen in ihm hoch, drangen unter die Eisschicht, die die Kälte um seinen Körper gelegt hatte – Erinnerungen an Serafina, die Cara nie gemocht hatte. Serafina konnte nicht verstehen, warum eine Nephila mit ihren Fähigkeiten haderte. Wenn Serafina die Tochter seines Vaters gewesen wäre – die beiden hätten sich so gut verstanden! Er hätte sie nie zu Kämpfen zwingen und nie bestrafen müssen, weil sie zu wenig Leidenschaft und Siegeswillen bewies.
Nichts passierte. Cara starrte immer noch auf ihn herab. »Tu’s doch!«, forderte er wieder heiser.
Zögerte sie, so wie er gestern gezögert hatte?
Er hätte sie töten können, und wenn er es getan hätte, wäre er jetzt wahrscheinlich nicht in dieser Lage. Doch diese Einsicht ließ ihn nicht bereuen, sondern nur kurz auflachen. Ihre Rollen hatten sich vertauscht; er, nicht sie, hatte sich als der größere Schwächling, der größere Feigling herausgestellt.
»Wenn du dich unserem Vater nicht unterworfen hättest … «, begann sie zu sprechen, »wenn du ihm nur widerstanden hättest … und wenn du später nicht Serafina verfallen wärst … du hättest sein können wie ich … «
Etwas in ihm bäumte sich auf. »Ich bin lieber tot als wie du«, zischte er. »Was hast du denn davon, auf der Seite der Wächter zu stehen?«
»Ich muss keine Menschen töten.«
»Aber mich. Mich musst du töten. Für Nathan. Für Aurora. Für Sophie … «
Plötzlich sah er Sophies Gesicht ganz deutlich vor sich, es verschwamm zunächst mit dem von Serafina, verdrängte es dann. Sophie … die ihn an seine Mutter erinnerte … seine sanfte Mutter, viel zu sanft … und viel zu schwach …
Sie hatte es nie
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