Der Kuss des Werwolfs - 1
Welcher stolze Werwolf wollte eine hinkende Wölfin, die nicht mit ihm dem Mond entgegenlaufen konnte?
Viel dringender musste sie das Problem lösen, wen sie heute Abend zum zweiten Treffen mit Derenski schicken sollte. Sie konnte unmöglich selbst gehen, niemals käme sie aus der Burg, so langsam wie sie war. Außerdem wollte sie sich vor den Krakauern nicht in dieser armseligen Verfassung präsentieren, nicht, wenn Igor sie sehen könnte. In Gedanken ging sie die Wölfe des Schottlandrudels durch. Wem konnte sie diese Mission anvertrauen? Die meisten schieden von vornherein aus, sie würden Rhodry niemals verraten. Zwei Namen blieben auf ihrer Liste: Brandon Hatherley und Flora Smith-Ney. Sie wusste, dass sie sich nach Freiheit sehnten und sich von den Regeln beim Zusammenleben eines Rudels manchmal eingeengt fühlten - so wie es Ianthe auch ging und weshalb sie in Edinburgh lebte.
Ianthe war bekannt, dass Flora sie um ihr Leben in Edinburgh beneidete. Das hatte die ältere Frau ihr einmal gesagt — jedoch auch gleich angefügt, sie hätte nicht den Mut dazu. Sie würde sich nicht gegen den Earl und Eugene stellen. Ianthe strich die Werwölfin von ihrer gedanklichen Liste.
Blieb Brandon Hatherley. Er gehörte zu denen, die Ianthe bewunderten; das war das Pfund, mit dem sie wuchern musste. Aber nicht, wenn sie im Bett lag und aussah wie sieben Tage Regenwetter. Ianthe klingelte nach ihrer Zofe und ließ sich in ein neues Nachthemd sowie ein dazu passendes Nachtjäckchen aus weißer Spitze helfen. Die Zofe steckte außerdem Ianthes Locken neu auf, sodass sie sich verführerisch um ihr Gesicht ringelten. Zuletzt betrachtete Ianthe sich in einem Handspiegel. Sie war zufrieden mit ihrem Äußeren, kniff sich aber noch ein paarmal in ihre Wangen, um etwas Röte auf ihre Porzellanhaut zu zaubern.
Während sie auf Brandon wartete, nahm sie den neuesten Roman von Walter Scott, den sie aus Edinburgh mitgebracht hatte, zur Hand. Nachdem sie eine Seite mehrmals gelesen hatte, ohne zu verstehen, was dort stand, gab sie schnell wieder auf.
Brandon stürmte in ihr Zimmer wie ein zwölfjähriger Menschenjunge. Als er sie im Bett liegen sah, stutzte er. »Oh, ich dachte, es wäre schon verheilt.«
»Es wird nie verheilen«, entgegnete sie barsch. Gleich darauf lächelte sie wieder. »Es gibt da eine Sache, bei der brauche ich Hilfe.«
»Meine? Ich tue alles für dich, Ianthe.«
»Findest du nicht auch manchmal, dass alles hier so . Wir leben ewig, wenn kein Silber dazwischenkommt. Alles ist wie in Stein gemeißelt. Was gibt es da noch Erstrebenswertes? Und jetzt hat der Earl auch noch diese Frau hierher gebracht .«
»Was hat Lady Eleonore damit zu tun? Soll ich sie etwa für dich umbringen, Ianthe? Das kannst du nicht von mir verlangen.«
»Das will ich doch gar nicht. Diese Menschin ist völlig bedeutungslos, nur der Earl stellt ihr Wohl über das aller anderen. Aber das Leben muss doch noch etwas anderes für uns bereithalten. Denkst du das nicht auch manchmal?«
Brandon sah aus, als hätte er ihren Worten nicht recht folgen können. Er zögerte mit der Antwort. »Ja, manchmal denke ich das. Shavick Castle ist noch ewiger als unser Dasein.«
»Willst du etwas dagegen tun?«
»Was?«
Ianthe schaute ihn mit kokettem Augenaufschlag an, leckte sich über die Lippen. In ihrem fehlenden Fuß tobte der Schmerz. »Die Krakauer sind noch hier. Ich habe Maksym Derenski gesehen und mit ihm gesprochen.
»Weiß der Earl davon? Natürlich, deshalb hat er alle zusammengerufen. Es geht nur in zweiter Linie um den Ball für Lady Eleonore.«
»Können wir sicher sein, dass sie für ihn die Reihenfolge der Dinge nicht verschoben hat?«
Als sie Brandons halb zustimmende Miene sah, wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
»Was willst du von mir, Ianthe?«
»Ich weiß, dass bei Maksym Derenski die Reihenfolge auf jeden Fall stimmt. Er würde einer Menschin nie diese Stellung einräumen, und seine Seelenpartnerin denkt genauso.«
»Du machst mit ihm gemeinsame Sache, und ich soll dir dabei helfen?«
»Du sollst mir helfen, die Werwölfe wieder zu dem zu machen, was wir einst waren und was unsere Natur ist. Keine Schaffresser. Wir sind der Albtraum der Menschheit. Mögen sie sich wieder in den Vollmondnächten in ihren Häusern verbarrikadieren und zittern. Für dieses Ziel ist jedes Mittel recht.« Sie bleckte die Zähne.
»Ausgerechnet Derenski.« Er bleckte ebenfalls die Zähne.
»Weißt du einen anderen Weg? Wir müssen
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