Der Kuss des Werwolfs - 1
Flamme lesbar gemacht werden müssen.
Die Buchstaben waren klein und nicht leicht zu lesen, das Schriftbild war ungewohnt für sie. Nola beugte sich dicht über das
Papier. Bei manchen Wörtern musste sie raten, aber schließlich ergab alles einen Sinn.
»Schöne Unbekannte, wenn Sie das lesen, haben Sie meine Vorsichtsmaßnahme durchschaut. Gratulation. Shavick Castle ist die Burg eines Werwolfs, ein ganzes Rudel hat dort seinen Sitz. Sollten Sie es nicht gewusst haben, halte ich es für meine Pflicht, Sie entsprechend zu informieren. Erschrecken Sie jetzt nicht, ich schreibe diese Nachricht, um Ihnen zu helfen. Verlassen Sie die Burg, heimlich oder ganz offen, was in Ihrem Fall besser ist, und gehen Sie in das nächste Dorf. Wenden Sie sich an den Dorfvorsteher, nennen Sie ihm meinen Namen, und er wird Ihnen weiterhelfen. Ich halte mich in der Nähe auf, haben Sie keine Furcht. Ich werde Sie in Sicherheit bringen und gewähre Ihnen Unterschlupf, solange es nötig sein wird.« Unterzeichnet war der Brief mit Sharingham.
Den Namen hatte sie schon einmal gehört. Rhodry hatte ihn erwähnt, nachdem Ianthe in die Falle der Jäger geraten war. Lord Sharingham sollte sie ausgelegt haben.
Sie warf den Brief in den Kamin, sah zu, wie die Flammen das Papier verzehrten. Ihr erster Impuls war, aufzuspringen und zu Rhodry zu laufen. An der Tür kehrte sie wieder um. Er wusste über seine Jäger Bescheid und würde nur lachen, wenn sie mit ihrem Verdacht kam.
Trotzdem war sie unruhig.
Sie suchte Ablenkung in der Bibliothek von Shavick Castle. Es war ein hoher, düsterer Raum, in nichts zu vergleichen mit der Freundlichkeit der übrigen Räume. Bücherschränke reichten vom Boden bis zur Decke, die Wände dazwischen waren bis in Brusthöhe mit Holz verkleidet und darüber mit einer bordeauxroten Tapete bespannt. Dunkle Ledersessel und ein wuchtiger Schreibtisch luden nicht zum Verweilen ein.
Nola konnte sich gut vorstellen, wie ein weißhaariger, löwenmähniger Graf dahinter Platz nahm, seine Pächter einzeln eintreten mussten, um ihre Abgaben zu leisten, und wehe, einer hatte nicht genug über … Rhodry konnte sie sich dort nicht vorstellen, er würde den Leuten vermutlich eher die Schuld erlassen, als sie zu verdammen.
Sie wandte sich den Bücherschränken zu, öffnete einen aufs Geratewohl. Die Tür klemmte, offensichtlich hatte längere Zeit niemand mehr darin gestöbert. Sie las die Titel auf den Buchrücken. Die meisten Bücher waren in abgegriffene
Ledereinbände gebunden, die Goldprägung verblasst. Die Bände waren nach Größe und Farbe sortiert. Predigtbücher standen neben solchen über Landwirtschaft, Reisebeschreibungen neben griechischen und lateinischen Klassikern. Sie fand französische Grammatiken, Rousseau und Franz von Assisi, Dante neben Thomas Moore. In einem anderen Schrank entdeckte sie Shakespeare — er hatte wahrscheinlich deshalb ein ganzes Bord für sich, weil seine Bücher alle die gleiche Größe und eine hellbraune Farbe besaßen.
Nur eines fand sie nicht — einen Unterhaltungsroman, keine abenteuerlichen Ritter-, Grusel-oder Liebesromane, die die vornehmen Damen im 19. Jahrhundert verschlungen hatten. Schließlich setzte sie sich mit »Shakespeares Sonette« in einen braunen Ledersessel. Sie hatte das Gefühl, in der Polsterung zu versinken, wuchtig ragten die Armlehnen neben ihr auf. Nola schlug das Buch in der Mitte auf und begann zu lesen, über die Liebe in wohlgesetzten Versen.
Die Gedichte füllten nie mehr als eine Seite, dennoch ermüdete Nola bald. Verse zu lesen hatte ihr schon in der Schule nicht gefallen, außerdem beherrschte Lord Sharingham ihre Gedanken. Was sollte sie mit seiner Nachricht machen? Bisher war sie davon ausgegangen, Rhodry würde sie gehen lassen, wenn sie ihn darum bat. Mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher - Werwölfe waren doch zu verschieden von Menschen. Mit einem Seufzer klappte sie das Buch zu und ließ es auf der Armlehne liegen. Die Bibliothek war zu ungemütlich, um sich länger darin aufzuhalten.
In der Tür prallte sie mit einem jungen Mann zusammen. Werwolf oder menschlicher Diener, jung oder alt, wer konnte das sagen? Sie warf einen forschenden Blick in sein Gesicht.
Er verneigte sich vor ihr. »Mylady.«
»Wir haben uns noch nicht kennengelernt, Mylady. Brandon Hatherley, mein Name.«
»Nola McDullen«, antwortete sie automatisch und wich vor ihm zurück. Sein Gesicht war zu perfekt, um interessant zu sein, außerdem meinte sie,
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