Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)

Alys fürchtete, es würde sie mehr Tapferkeit kosten, dem Wolf dauerhaft die Stirn zu bieten, als sie besaß.
     
    Eine Stunde später machte sie sich deswegen keine Gedanken mehr. Wolfer hatte sein Hemd ausgezogen, und im selben Augenblick war ihr der Strandritt wieder in den Sinn gekommen. Sie spürte, wie das Kribbeln zurückkehrte, das sie beim Anblick seines unzweifelhaft erregten Schattens empfunden hatte.
    Da die Mittagshitze sogar auf der Südseite in den nordwestlichen Burgflügel drang, war es warm im Raum. Am liebsten hätte sie ihre eigenen Kleider abgelegt. Sie wischte sich den Schweiß vom Gesicht, das von der Anstrengung glühte, die kleineren Gegenstände – Stühle, Kissen und Bettzeug – aus Sabers alter Schlafkammer zu einem der Gästeräume am Ende dieses Flügels zu tragen. Jetzt, wo er in der Kammer ganz oben im Turm wohnte, hatte der älteste der acht Brüder keine Verwendung mehr für den Raum. Seine Frau dagegen umso mehr.
    Nicht alle Räume waren komplett möbliert, obwohl frühere Generationen verbannter Familien die größeren Möbelstücke zurückgelassen hatten. Alys und Kelly entnahmen den Bemerkungen der beiden Männer, dass die anderen Verbannten für gewöhnlich bis zu ihrem Tod auf Nightfall gelebt hatten. Danach war die Insel wieder verlassen gewesen. Die Erben und die Diener, denen es erlaubt worden war, sie zu begleiten – im Fall der Brüder betraf das allerdings niemanden, und schon gar keine Frauen -, hatten jederzeit wieder gehen dürfen. Sie kehrten für gewöhnlich in ihre Heimat zurück, wenn die Verbannten starben, um deren Landsitze zu verwalten.
    In allen Flügeln waren die Wirtschaftsräume in der Nähe des Donjons im Herzen des Palastes untergebracht. Dazu gehörten die Kräuterkammer, die Küche, das Esszimmer, die Nähkammer und die Alebraukammer im Nordflügel – obwohl die Krüge im Keller des Donjons aufbewahrt wurden – sowie andere Vorratskammern und ein komplett mit Zellen, Schlüsseln und Ketten ausgestattetes Verlies. Diese Räumlichkeiten hatten sowohl Kelly als auch Alys naserümpfend betrachtet, obwohl die Brüder mit der Säuberung dieses Teils der Burg nicht viel Arbeit gehabt hatten. Welchen abscheulichen Zwecken diese Kammer auch einst gedient haben mochte, es lag lange zurück.
    Die Waffenschmiede und der Waffensaal befanden sich im Westflügel, zusammen mit Kammern, die mit alten Karten und Zeichnungen der Insel, der umliegenden Gewässer und des Kontinents Katan gefüllt waren. Der Ballsaal und das große Studierzimmer lagen im Ostflügel, die Empfangshalle, die Bibliothek und der Raum, in dem die Lichtkugeln gelagert wurden, im Südflügel, und in jedem Flügel gab es zusätzlich kleine Wohnstuben und Salons. Die Schlafkammern sowie die meisten Abtrittkammern und Bäder fand man an den langen, gegabelten Enden eines jeden Flügels.
    Alys kam zu dem Schluss, dass es in dieser Burg über hundert Schlafräume geben musste. An einige davon schlossen sich Wohnstuben, eigene Bäder sowie Abtrittkammern an, und oben auf dem Dachboden gab es die Gemeinschaftsbäder für die Dienstboten, die vor langer Zeit hier gewohnt hatten. Dazu gab es noch größere Badekammern mit steinernen Wannen, Treppenfluchten und weitere Abtritte – die geraden Abschnitte der Flügel erstreckten sich über fast hundert Yard, die Flügel selbst über zwei Drittel dieser Länge.
    Selbst wenn man berücksichtigte, wie dick die Außenmauern und die Wände waren, die die Räume voneinander trennten, war die Burg in ihren Augen noch ungeheuer groß – und dabei hatte sie die acht mächtigen Türme noch nicht mit einbezogen, die auf der leicht geschwungenen achtseitigen Mauer thronten. Jeder verfügte über mehrere Stockwerke und beherbergte die Arbeits- und Lagerräume eines jeden der acht magisch begabten Brüder. Dazu kamen einige Außengebäude, Ställe, eine Scheune, eine Tischlerei, eine Schmiede, ein Hühnerstall und mehrere Gärten. Außerdem lagen zwischen den vier Gabelungen eines jeden Flügels vier Höfe. Ein Heim von riesigen Ausmaßen für acht Brüder, die hier drei Jahre lang allein gelebt hatten. Seit der Ankunft der eigenartigen, aber umgänglichen Kelly und mit Alys waren sie nun zu zehnt.
    Alys sah zu, wie Saber gleichfalls sein Hemd abstreifte. Seine gebräunte Haut glänzte ebenso vor Schweiß wie die breite Brust seines Zwillings. Sie versuchte, ihn nicht allzu unverhohlen anzustarren, als er an Kellys Seite trat und ihr etwas zuflüsterte. Dann machten