Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
Vorstellung, dass Frauen auf der Insel leben, ganz und gar nicht gefällt. Mir ist gleichfalls bewusst, dass mein Herrschaftsanspruch auf Nightfall große Aufregung ausgelöst haben dürfte, obwohl Katan die Insel und euch gleich dazu in den sprichwörtlichen Mülleimer geworfen hat. Indem wir ihnen Informationen über einen potenziellen Feind zukommen lassen, können wir sie vielleicht milde stimmen. Das nennt man Diplomatie.«
»Lass uns diese Möglichkeit als Trumpfkarte für später aufsparen«, meinte Saber. »Die wir ausspielen können, nachdem unser Bruder unversehrt zu uns zurückgekehrt ist.«
»Ich finde es immer noch nicht richtig, dass du seine Entführung nicht verhindert hast, Morganen«, grollte Evanor verdrossen. »Wenn du Dominor aus dieser Entfernung im Auge behalten kannst, dann hättest du auch die Mandariter direkt ausspionieren können!«
»Evanor, die Strophe deines Zwillings im ˒Lied der Söhne des Schicksals˓ deutet unmissverständlich darauf hin, dass er mit seiner zukünftigen Frau ein Willensduell austragen wird. Einen Kampf der Geschlechter «, fügte Morganen, das letzte Wort betonend, hinzu. »Sogar du wirst mir zustimmen, dass er diese Frau am ehesten in einem Land findet, in dem die Geschlechter im Krieg miteinander liegen.«
Dieses Argument bewog seinen viertgeborenen Bruder zum Einlenken. Sichtlich unglücklich über die Entwicklung der Dinge drehte er seinen Becher in den Händen, sagte aber nichts mehr. Kelly biss unwillkürlich in ihre geballte Faust, um ein Schnauben zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht ganz.
Ihr Mann sah sie misstrauisch an. »Was ist?«
Kelly nahm die Faust aus dem Mund und feixte. »Und du dachtest, unsere erbitterten Wort- und Willensgefechte ließen sich nicht mehr steigern!«
Es war Evanor, der daraufhin am lautesten zu lachen begann, woraufhin sich die Spannung im Raum merklich lockerte. Da die Mahlzeit mehr oder weniger beendet war, erhoben sich die Brüder und verließen den Raum. Nur Morganen bemerkte, dass der dunkelhaarigste Bruder ebenfalls zur Tür hinaushuschte, obwohl er heute Abend an der Reihe gewesen wäre, den Tisch abzuräumen. Ohne ein Wort darüber zu verlieren – der jüngste Magier konnte nur vermuten, was Rydan vorhatte – übernahm Morganen diese Arbeit. Er konnte seinen wortkargen Bruder später immer noch fragen, wo er gewesen war und was er getan hatte.
Und wenn Rydan ihm die Antwort schuldig blieb, würde er ihn nachdrücklich darauf hinweisen, dass er ihm einen Gefallen schuldete.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
E r fand sie auf dem Dock, wo sie die Beine über den Rand der Holzplanken baumeln ließ. Die Wellen der einsetzenden Ebbe plätscherten leise.
Alys hatte erwogen, in der Eulengestalt, die sie hierhergebracht hatte, Richtung Westen zum Festland zurückzufliegen und sich dann in einen Otter zu verwandeln, um die letzte Strecke zu schwimmen, aber sie machte sich Sorgen wegen der Strömung. Sie hatte schon bei ihrer Ankunft festgestellt, dass sie stärker gewesen war als erwartet, und sie wusste, dass sie Gefahr lief, südlich hinter Nightfall auf das offene Meer hinausgetrieben zu werden.
Außerdem hatte sie keine Ahnung, wo sie hingehen sollte. Der einzige Mensch, der ihr außer den Brüdern und einer Handvoll der Dienstboten ihres Onkels einfiel, war Cari, die Schankdirne. Und da war noch etwas. Zwar genoss sie den Liebesakt mit Wolfer immer in vollen Zügen, aber sie glaubte nicht, mit einem anderen Mann auch nur annähernd so viel Vergnügen daran zu finden. Zumindest nicht genug, um ihren Lebensunterhalt auf diese Weise zu verdienen.
Doch als die hochgewachsene Gestalt geräuschlos auf sie zukam, zögerte, sich dann neben ihr niederließ und die mit Stiefeln bekleideten Füße gleichfalls über den Wellen baumeln ließ, wusste sie, dass zumindest dieser Mann ihr ihre Beteiligung an den grausamen Taten ihres Onkels vergeben hatte. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte er sie niemals gesucht.
Dass es sich bei dem Mann an ihrer Seite um Rydan und nicht um Wolfer handelte, wunderte sie nicht nur, sondern machte sie auch ein wenig nervös. Alys wurde nicht recht schlau aus diesem Bruder; sie hatte ihn, wenn sie ehrlich sein sollte, noch nie verstanden. Ein verstohlener Blick in sein bleiches, vom schwachen Sternenschein und dem silbrigen Licht der zwischen Wolken im Westen hervorspähenden Schwester Mond beleuchtetes Gesicht verriet ihr, dass er nicht zornig war. Er wirkte undurchschaubar, das ja, aber nicht
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