Der Kuss des Wolfes: Roman (German Edition)
zornig.
Als Junge war er ebenso wild und ausgelassen gewesen wie seine Brüder, hatte aber damals schon Stimmungsschwankungen erkennen lassen. Nicht dass er direkt launisch gewesen wäre, aber er hatte sich schon immer stärker von seinen Emotionen beherrschen lassen als seine Brüder. Sie erinnerte sich daran, dass er sich, als er in die Pubertät gekommen war, immer mehr von den anderen zurückgezogen, immer weniger an ihren Aktivitäten teilgenommen und schließlich sogar seinen Zwilling Trevan manchmal gemieden hatte.
Jetzt war er ein durch die Nacht streifendes wandelndes Rätsel. Sie konnte nicht ergründen, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging, nur eines wusste sie mit Sicherheit – irgendwie verstand er, dass sie eine Wahl hatte treffen müssen, und das, was sie zu tun gezwungen gewesen war, aufrichtig bereute. Alles, ohne dass ein Wort zwischen ihnen gefallen war.
Sie empfand seine Gegenwart als seltsam beruhigend. Sogar als Schwester Mond hinter einer Wolkenbank am Horizont verschwand und sie in Dunkelheit tauchte, fühlte sie sich nicht von ihm bedroht. Sie zweifelte nicht daran, dass er ausgesprochen furchteinflößend wirken konnte, wenn er es darauf anlegte, mehr noch vielleicht als ihr Onkel, er strahlte etwas Unheimliches aus. Aber zu ihr war er immer freundlich gewesen. Ihre Mundwinkel zuckten. Wenn man den Umstand, dass er mich weitgehend ignoriert, als ›freundlich‹ bezeichnen kann …
»Gib ihm etwas Zeit.«
Alys schrak zusammen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Rydan von sich aus das Wort an sie richten würde. »Wem? Wolfer?«
Er gab einen leisen Laut von sich. Mit etwas mehr Nachdruck hätte es ein Schnauben sein können. »Wem sonst?«
»I …in Ordnung«, stammelte sie verunsichert. Eine Weile saßen sie schweigend da, während Alys darüber nachgrübelte, was Rydan wohl bewogen hatte, sich auf die Suche nach ihr zu machen. Dann fragte sie schüchtern: »Wie viel Zeit?«
»Eine Stunde, vielleicht zwei. Wenn du möchtest, spreche ich mit ihm.« Er schien ihre Verwirrung zu spüren, denn er sah sie plötzlich an. Alys wünschte insgeheim, der Mond würde wieder zum Vorschein kommen. In der sie einhüllenden Dunkelheit war es schwer zu erkennen, ob tatsächlich ein leises Lächeln um seine Lippen spielte.
»Ich wollte meinem Onkel nicht helfen«, beteuerte sie hastig. »Mir blieb nur nichts anderes übrig …«
»Ich weiß.«
Wieder saßen sie eine Weile still nebeneinander und lauschten dem Plätschern der Wellen, die an den Pfählen des Docks leckten. Endlich räusperte sich Alys. »Er jagt mir Angst ein, weißt du?«
»Wolfer?«
»Broger«, stellte sie richtig. Dann gab sie seufzend zu: »Na ja, Wolfer auch, aber eher, weil ich mich davor fürchte, ihn bis zu einem Punkt zu enttäuschen, an dem er anfängt, mich zu hassen. Aber Onkel … er flößt mir nacktes Entsetzen ein. Und ich habe keine Ahnung, wie man ihn aufhalten kann. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand in der Lage ist, seinem Treiben ein Ende zu setzen.«
»Wir sind stark genug, um ihn zu vernichten«, versicherte Rydan ihr ruhig, dabei verlagerte er sein Gewicht, als wolle er aufstehen.
Alys berührte ihn am Arm, um ihn aufzuhalten. »Genau das seid ihr eben nicht.«
Er machte sich sofort sacht, aber bestimmt von ihr los, was sie daran erinnerte, dass er sich mit zunehmendem Alter weniger und weniger gern hatte anfassen lassen. Sie ließ die Hand sinken. Zum Glück schien er ihr die Geste nicht zu verübeln. Tatsächlich konnte sie in dem kurzen Moment, wo sich der Mond hinter den Wolken hervorschob, deutlich sehen, dass er einen Mundwinkel in die Höhe gezogen hatte. »Ich hätte ihn schon vernichten können, als ich sechzehn war, Kleines, und ich bin in der Zwischenzeit noch mächtiger geworden. Außerdem habe ich Brüder, die mir zur Seite stehen.«
»Bist du mächtig genug, um einen Todesfluch, der euch unweigerlich treffen wird, falls ihr versucht, Broger etwas anzutun, außer Kraft zu setzen?«, fragte sie herausfordernd, als er erneut Anstalten machte, sich zu erheben. Er hielt inne, runzelte die Stirn und kauerte sich dann neben sie an den Rand des Piers.
»Einen Todesfluch?«, wiederholte er, sie anstarrend. Das Mondlicht wurde noch heller, sodass sie ihm seine Verwirrung deutlich vom Gesicht ablesen konnte.
»Er hat ein Netz von Zaubern um sich gewoben. Jeder, der ihn tötet oder auch nur verwundet, beschwört einen Todesfluch auf sich herab. Vor allem, wenn der Betreffende Magie
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