Der Kuss des Zeitreisenden (German Edition)
gar nicht ähnlich, sich zum Schmollen zurückzuziehen. Vielleicht brauchte sie nur etwas Abgeschiedenheit, um abzukühlen. Jordan zog den Hebel, der die Luftschleuse öffnete, und schloss hinter sich die Tür. Die Dichtungen zischten. Er drückte auf seinen Handcomputer. »Wie steht es jetzt um das Auge?«
»Stabil. Es wird in vier Minuten über die Insel hinwegziehen«, berichtete Gray.
Jordan musste zunächst in den freien Fall gehen und dann ein wenig Zeit einkalkulieren, in der er mit dem Auge flog, während es über die Insel wehte. Er drückte einen Zeitmesser an seinem Handgelenk. »Countdown läuft.«
»Achtundfünfzig Sekunden. Sieht gut aus«, sagte Tennison durch den kleinen Lautsprecher.
»Sie können jederzeit bis zu den letzten fünf Sekunden abbrechen«, rief ihm Gray in Erinnerung. »Dann wird sich die Außenluke langsam öffnen.«
»Fünfzig Sekunden.«
Jordan erinnerte den Mann jetzt nicht daran, dass er selbst es gewesen war, der dieses System entworfen hatte. Er überprüfte seine Ausrüstung. Stab, Zaumzeug und Winterkleidung waren allesamt verstaut und zum Flug bereit.
»Vierzig Sekunden.«
»Das Auge dreht sich. Windgeschwindigkeit an seinen Rändern über zweiundfünfzig«, sagte Gray.
»Noch im Zielbereich?«, fragte Jordan.
»Ja, Sir.«
»Dreißig Sekunden.«
Die Draco erbebte.
»Statusbericht«, forderte Jordan.
»Wir sind in ein Luftloch gefallen und ein wenig von unserer Position abgekommen. Ich habe das aber schon korrigiert«, antwortete Gray.
»Zwanzig Sekunden.«
Jordan drehte sich der äußeren Luke zu und spähte durch das winzige Fenster der Luftschleuse. Wenige blasse Sterne funkelten am dunklen Himmel der oberen Atmosphäre. Wieder erbebte das Schiff.
»Wie hoch ist die Außentemperatur?«
»Fünfzig unter null. Sie werden schnell absteigen müssen.«
»Zehn Sekunden.«
»Sagen Sie Vivianne, dass ich bald zurück sein werde.«
»In Ordnung«, gab Gray zurück. »Fünf Sekunden.«
Jordan packte den Hebel der Außenluke und zog daran. Das Schloss drehte sich ganz langsam.
Jordan hörte ein dumpfes Geräusch. Er warf einen Blick über die Schulter und sah Vivianne neben sich. Verdammt. Die ganze Zeit war sie über seinem Kopf gewesen, hatte sich gegen die Decke gedrückt und so lange gewartet, bis es kein Zurück mehr gab.
Er fluchte. »Was bei den sieben Höllen des Hades tust du hier?«
Schlachterfahrene Soldaten hatten sich schon unter seinen Wutanfällen zusammengekauert. Vivianne hingegen zuckte nicht einmal. In ihren Augen loderte es.
»Ich begleite dich, ob es dir nun gefällt oder nicht.«
Jetzt war es zu spät, sie zurückzuschicken.
»Verdammt, du bist wirklich eine sture Frau.« Wütend und um ihre Sicherheit besorgt sah er sie an. Dann stürzten sie gemeinsam aus der Luftschleuse. Und gingen in den freien Fall über.
Eiseskälte traf sie und kalter Wind zerrte an ihrer Kleidung. Jordan zog Viviannes Gesicht an seine Brust und schirmte sie vor den schlimmsten Auswirkungen des Sturms ab. »Verwandle dich noch nicht, denn sonst reißt dir der Wind die Schwingen ab.«
»Ich weiß.«
»Rede nicht. Atme auch nicht.« Die Luft könnte dann nämlich in ihrer Lunge gefrieren.
Wenigstens geriet sie bei diesem eisigen Sturz nicht in Panik. Doch sobald sie unten waren – wenn sie überhaupt unten ankamen – , dann würde er … würde er … was würde er dann tun? Zur Hölle mit ihr! Sie ließ ihm keine Wahl. Er musste dafür sorgen, dass sie überlebte. Sie hätte nicht mitkommen dürfen. Er wusste nicht einmal, ob er selbst durch diesen Sturm fliegen konnte, und sie besaß weder seine Erfahrung noch seine Muskeln und seine Körpermasse.
Während ihn die Wut durchpulste, zählte er die Zeit. Nach sechzig Sekunden konnten sie sich verwandeln. Er hoffte nur, dass ihre Gliedmaßen bis dahin nicht steif gefroren waren.
»Fertig?«, schrie er nun aus vollem Hals, damit sie ihn in dem peitschenden Wind auch hören konnte.
Vivianne erwiderte durch halb erfrorene Lippen: »Ich bin schon fertig geboren worden.«
*
Sie konnte es nicht zulassen, dass Jordan allein auf den Sturmplaneten flog. Sie betete, dass sie sich nützlich machen konnte. Seine heftige Wut strahlte in Wellen von ihm ab. Sie musste ihm zeigen, dass sie unentbehrlich war.
In wenigen Sekunden konnte sie sich in einen Drachen verwandeln. Bis dahin musste sie aber das flaue Gefühl in ihrem Magen ignorieren, das nicht von Jordans Verärgerung, sondern von dem freien Fall
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