Der Kuss Im Kristall
ihre Fingerspitzen kribbelten. Fieberhaft versuchte Alethea, einen klaren Gedanken zu fassen. Tante Henrietta! Sie hatte zu dieser Zeit in London die Zukunft vorhergesagt. „Bitte, erklären Sie es mir, M’sieur .“
Seine Stimme wurde tief und dunkel, so bedrohlich wie das Knurren eines Wolfs. „Sie rieten ihr zu einer Reise. Sie sagten ihr, es sei dringend, und sie müsste dem Mann entfliehen, den sie liebte. Sie sagten, er wäre ein Zerstörer, und das Schicksal wartete auf sie.“
Alethea versuchte zurückzuweichen, aber McHugh folgte ihr. Er baute sich direkt vor ihr auf, und seine Größe allein wirkte schon einschüchternd. Sie erinnerte sich, gehört zu haben, dass sich McHughs Frau und sein Sohn auf einem Schiff befunden hatten, das vor einigen Jahren von Barbaren gekapert worden war, und dass sie an Typhus oder Dysenterie gestorben waren. Und Tante Henrietta musste ihr die Zukunft vorausgesagt haben. Musste ihr geraten haben, diese unglückselige Reise zu unternehmen.
Himmel! McHugh wollte Wiedergutmachung! Wollte er sie töten? Hatte er geglaubt, Tante Henrietta getötet zu haben, war dann überrascht gewesen zu erfahren, dass sie noch am Leben war, und war jetzt wiedergekommen, um seine Rache zu vollenden? Nach einem weiteren Schritt zurück stieß Alethea gegen eine Wand. Sie blickte zu dem Glockenstrang auf der anderen Seite des Zimmers.
„Nun?“, fragte McHugh, und sein Mund war ganz nahe an ihrem Ohr. Falls es seine Absicht war, sie zu verängstigen, so gelang ihm das. „Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?“
Was sollte sie darauf erwidern? „Ich – ich erinnere mich nicht an sie“, stieß sie hervor.
„Gütiger Himmel, Madame ! Ruinieren Sie so viele Leben, dass sie sich die einzelnen nicht einmal merken können? Maeve und Hamish sind tot, und Sie erinnern sich nicht einmal an ihre Namen?“
Er trat näher, und Alethea spürte die Wärme seines Körpers durch ihre Kleider hindurch, roch sein Rasierwasser, fühlte seine Wut. Was konnte sie tun, um seinen Schmerz zu lindern? Wie ihn beschwichtigen?
„Ich – es tut mir leid. Hätte ich gewusst, dass …“
„Genau“, rief er und packte sie wieder an den Armen. „Ist das nicht Ihr Beruf? Zu wissen? Aber genau das ist ja der springende Punkt. Sie sind eine Schwindlerin. Eine gewissenlose Betrügerin, die mit dem Leben anderer spielt, und Sie entsinnen sich nicht einmal der Namen derjenigen, deren Leben sie zerstörten.“
Er ließ sie los, hob seine Hand, und Alethea zuckte zusammen aus Furcht vor dem, was er ihr mit einem einzigen Schlag zufügen könnte. Als er sich aber stattdessen mit den Händen durch das dunkle Haar fuhr, seufzte sie erleichtert. „Mylord, lassen Sie mich bitte erklären …“
„Nein, Madame . Lassen Sie mich erklären.“ Während er sprach, kehrte er zurück zum Tisch, schob die Karten zu einem Stapel zusammen und legte sie vor sich hin. Dann begann er, die Karten aufzudecken, ohne hinzuschauen, langsam, methodisch, ohne den Blick von Alethea zu wenden. „Für die Königin der Kelche geht vom König der Schwerter Gefahr aus. Er mag sie nicht. Er hält sie für einen verräterischen Scharlatan. Ich sehe eine Wende des Schicksals. Ich sehe Ärger, der bevorsteht, Madame , und Unglück. Ich sehe jemanden, der nur darauf wartet, dass Sie Ihren nächsten Fehler machen. Und wenn Sie das tun, wird er bereit sein. Sie werden als die Schwindlerin enttarnt, die Sie sind. Wenn das Schicksal mit Ihnen fertig ist, wird nicht einmal ein Verrückter Sie dafür bezahlen, ihm die Zukunft zu lesen. Sie leben mit geborgter Zeit, Madame. Und wenn Sie jemals wieder irgendwen in sein Unglück stürzen, dann werde ich das nicht ungesühnt lassen.“
Er trat zur Tür und öffnete sie. „Oh“, sagte er, ohne sich umzudrehen, „und vergessen Sie nicht, stets hinter sich zu blicken. Wann immer Sie sich in Sicherheit wähnen, wann immer Sie glauben, ich hätte Sie vergessen – dann wird das Beil fallen.“
7. KAPITEL
Alethea erstattete der Mittwochsliga in Graces privatem Salon Bericht, während sie darauf warteten, dass die Kutsche der Forbushs vorfuhr, um sie zu den Woodlakes zu bringen. Über das letzte Treffen mit Lord Glenross erzählte sie allerdings nicht die ganze Wahrheit. Wenn die anderen wüssten, was sich tatsächlich zugetragen hatte, würden sie Alethea vermutlich nicht erlauben, ihre Ermittlungen in Tante Henriettas Salon fortzusetzen.
„Und als ich die Karten herumdrehte, waren sie genauso
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