Der Kuss Im Kristall
werden, vielleicht also könnte sie seine Aufmerksamkeiten auf Dianthe lenken. Zuerst musste sie ihre Schwester von Douglas McHugh abbringen, der zu unstet war, um einen guten Ehemann abzugeben. Wenn das nicht funktionierte, würde sie sich so unfreundlich benehmen, dass Sir Martin in den kommenden Monaten seine Zuneigung zu ihr verlieren würde. Bis zum Frühjahr würde er bereit sein, seine Aufmerksamkeit auf eine andere zu richten. Ja, das wäre die Lösung. Sie würde ihn vertrösten, bis sein Eifer sich gelegt hatte.
„Ich brauche Zeit, Sir Martin, um meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Ich möchte nichts übereilen, wenn es um die Zukunft geht.“
Die Hoffnung, die sie in seinen Blicken las, beschämte sie. „Ich werde warten, wie lange Sie auch immer brauchen mögen, um eine Entscheidung zu treffen, Miss Lovejoy. Ich werde darum beten, dass diese Entscheidung zu meinen Gunsten ausfällt.“
Obwohl die Uhr erst sechs Uhr schlug, war es bereits vollkommen dunkel, als Grace Alethea vor dem La Meilleure Robe absetzte. Gerade wollte Madame Marie nach Hause gehen. „Soll ich bleiben, chérie , oder soll François kommen, bis Sie fertig sind?“
Die Renquists lebten in einer Wohnung im ersten Stock direkt neben dem Laden. Sie würden die Notglocke hören, daher war es nicht nötig, dass Mr. Renquist in dem Ankleidezimmer unter dem Laden saß. „Kein Grund zur Sorge, Madame . Ich habe nur einen Termin mit einer seit Langem geschätzten Klientin und werde gleich danach wieder gehen. Bis auf Weiteres werde ich den Salon schließen. Ich fürchte, es ist zu gefährlich geworden, um weiterzumachen.“
„Gefährlich, chérie ?“
„Oh, keine Sorge. Bitte teilen Sie Mr. Renquist mit, dass die Damen ihn morgen kontaktieren werden, um einen Termin festzulegen, an dem wir die nächsten Schritte besprechen werden.“
„ Oui . Oh, was ich Ihnen noch sagen wollte, chérie , kürzlich war ein Lord Glenross hier. Er hat Fragen über Sie gestellt.“
„Über mich?“, rief Alethea entsetzt.
„Nicht über Sie, chérie . Über Madame Zoe. Ich sagte ihm, dass ich wenig auf meine Nachbarn achte und dass Sie sehr still sind und keine Schwierigkeiten machen.“
„Vielen Dank, Marie.“ Sie atmete wieder etwas ruhiger.
Die Schneiderin lächelte weise. „Was für ein Mann. Wäre da nicht François …“
Ein bemerkenswerter Mann, ja, aber einer, der entschlossen war, Alethea zu zerstören. Jetzt befragte er schon Madame Marie. Wie lange würde es dauern, bis er die Wahrheit herausfand?
„Seien Sie vorsichtig, ja?“
„ Oui “, erwiderte Alethea und war schon unterwegs zu der verborgenen Kammer, die zu ihrem Salon führte.
Sobald sie eine Lampe entzündet und das Feuer entfacht hatte, begann sie, sich hastig umzukleiden. Obwohl Lady Enright wusste, dass sie nicht die war, die zu sein sie vorgab, erschien es Alethea noch immer nötig, anonym zu bleiben. Eines Tages würde sie Lady Enright vorgestellt werden, und sie wollte eine unerfreuliche Begegnung vermeiden.
Die kleine Uhr auf dem Kamin schlug zur halben Stunde, und Alethea warf einen Blick aus dem Fenster. Keine Kutsche war unten auf der Straße zu sehen, und auch sonst war kein Hinweis auf Lady Enrights Ankunft zu entdecken. Alethea runzelte die Stirn. Diese Frau war immer pünktlich gewesen. Aber möglicherweise hatte das Wetter sie aufgehalten.
Alethea entschied, die Zeit nicht allein mit Warten zu verbringen, und schob ihren Schleier zurück. Sie stellte einen Kessel auf den Herd und ging zu dem Alkoven, in dem sich ein Bett befand und ein kleiner Schreibtisch. Sie öffnete einen Handkoffer, der darunter stand, und begann den Inhalt zusammenzufalten und wegzuräumen. Wenn sie heute Abend die Tür verschloss, wollte sie keine Spur von Henrietta oder Madame Zoe zurücklassen.
Als sie einen kleinen Stapel Taschentücher aus der Schublade nahm, weckte ein Hauch von Henriettas Lilienwasser Erinnerungen an ihre Kindheit – wie Alethea auf dem weichen Schoß ihrer Tante saß und sich an deren Fichu aus Leinen schmiegte, das diesen Duft barg. Heftige Gefühle, die sie viel zu lange unterdrückt hatte, überwältigten Alethea in diesem Moment. Tränen strömten aus ihren Augen, und sie schluchzte auf. Sie sank auf die Knie und gab sich der Trauer hin, die sie die ganze Zeit verdrängt hatte. Sie lehnte die Stirn gegen ihr Bett und weinte, bis keine Tränen mehr kamen.
So in ihren Kummer vertieft, bemerkte sie nicht, dass sie nicht länger allein war, bis
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