Der Lange Weg Des Lukas B.
Liebenberg zogen. ›Alles gehört uns‹, sagte der eine und legte Urkunden auf den Schanktisch. Mutter ließ eben in einer Pfanne Speck aus. Das Fett dampfte über dem Feuer. Sie zog die Pfanne an den Rand des Herdes, kam zu den Männern an den Schanktisch und las die Schriftstücke sorgfältig. Ich verkroch mich hinter dem Kachelofen. ›Nächste Woche werden wir ausziehen aus diesem Haus‹, sagte sie. ›Was bleibt uns anderes übrig?‹
›Schön und gut‹, stimmte einer der Spieler zu. Er war ein großer, blonder Mann, dem eine Locke tief in die Stirn hing. ›Aber was machen wir mit unserem schönsten Gewinn? Was machen wir mit dir, Frau?‹«
»Er wollte sich mit deiner Mutter einen bösen Spaß machen, Luke.«
»Jedenfalls reichte er Mutter den Schein. Die las auch den, lief dann zum Feuer und warf ihn in die Flammen. Heute erst weiß ich, was auf dem Papier gestanden hat. Die Männer sprangen auf. Zumindest der Blonde war wütend und ging auf Mutter zu. Die fauchte ihn an: ›Habt ihr es nicht in der Schule gelernt, ihr feinen Herren, dass der Freiherr vom Stein schon vor mehr als 50 Jahren die Bauern frei gemacht hat?‹
Die Männer stutzten.
Mutter fuhr fort: ›Mit dem Martinitag hörte alle Gutsuntertänigkeit in unseren sämtlichen Staaten auf. So steht’s geschrieben. Seit dem Martinitag 1810 gibt es nur noch freie Leute. Habt ihr das vergessen, ihr sauberen Herrchen?‹
›Hast in der Schule gut aufgepasst, Frau. Aber Spielschulden sind Ehrenschulden. Hast du das nicht auch gelernt?‹
›Eure Ehre ist nicht meine Ehre.‹ Mutter packte den Pfannenstiel mit beiden Händen und hob die Pfanne, in der das Fett dampfte, vom Feuer. ›Ich zähle bis drei. Wenn ihr dann diese Schankstube nicht verlassen habt, dann gieße ich euch das siedende Fett über den Leib.‹
Meine Angst war wie weggeblasen. Ich kroch hinter dem Kachelofen hervor und zählte laut: ›Eins, zwei . . .‹, aber drei brauchte ich nicht mehr zu rufen. Die Schankstube war leer. Wie konnte ich damals wissen, was die Männer wollten? Aber jetzt weiß ich es. Nie werde ich vergessen, was Vater uns angetan hat. Wenn sie ihn irgendwo an einem Baum aufgehängt finden, Großvater, ich schwöre dir, keine Träne werde ich ihm nachweinen.«
»Schluss jetzt, Luke«, sagte der alte Mann, »bist doch noch ein Kindskopf, der mit der Wirklichkeit nicht fertig wird.«
»Das bin ich nicht«, schrie der Junge und rannte voraus.
Spät am Nachmittag zog der alte Jude Nathan seinen Schlitten ins Dorf und zwei struppige, rötlich weiße Hunde halfen ihm dabei. Der Jude besuchte die Dörfer rundum zweimal im Jahr. Im Winter brachte er Hornknöpfe und Seidenbänder, Kämme aus Schildpatt und bunte Borten und allerlei Kram mit. Er hielt vor jedem Haus seinen Schlitten an. Die Frauen suchten lange in seinen Schätzen, aber in diesem Jahr kauften sie wenig. Das Geld war knapp. Auch bei den Bienmanns, wo er in fetteren Zeiten stets gute Geschäfte gemacht hatte, suchte die Großmutter nur drei Hirschhornknöpfe für die Jacke des alten Mannes heraus und selbst um deren Preis feilschte sie lange mit Nathan.
»Kommst weit herum«, sagte Marie zu ihm.
»Ja, sicher, Frauchen. Kein Vergnügen bei der Kälte.«
Der Junge merkte, dass es der Mutter schwer fiel weiterzusprechen. Erst als die Großmutter aus der Stube ging und die Schnapsflasche holen wollte, fragte sie ihn leise: »Hast nichts gesehen, nichts gehört von meinem Mann, dem Karl?« Einen Augenblick zögerte Nathan. Dann aber schüttelte er den Kopf.
»Nein, Frauchen, ich hab nichts gesehen, nichts gehört von ihm.« Marie senkte die Augen. Der Händler wollte ihr etwas zum Trost sagen, aber es fiel ihm nichts Rechtes ein. »Weißt, Frauchen«, sagte er schließlich, »hab mich nach ihm umgehört zwischen Gumbinnen und Königsberg. Schon weil die Bilderchen vom Karl ein Geschäftchen waren, ein gutes. Hab verkauft ein Dutzend oder mehr und könnt verkaufen noch ein Dutzend, wenn ich sie hätt. Aber hat der Erdboden ihn verschluckt. Na ja, wird ihn vielleicht irgendwann wieder ausspucken, Frauchen.«
Marie erinnerte sich, dass Karl dem Händler gelegentlich ein paar postkartengroße Bilder verkauft hatte, die dieser mit seinen anderen Waren angeboten hatte.
»Hast nicht noch so ein kleines Bild, das der Karl gemacht hat?«
Wieder zögerte der Händler. »Willst es kaufen?«, fragte er.
»Kaufen kann ich’s nicht. Nur anschauen möcht ich’s.«
»Ist lange her, dass ich das
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