Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lange Weg Des Lukas B.

Der Lange Weg Des Lukas B.

Titel: Der Lange Weg Des Lukas B. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
Keine Jungfrau braucht mehr vor der Heirat aufs Gut, damit der Herr ausprobiert, ob sie für die Ehe taugt. Niemand wird gezwungen, hat er keine Schulden beim Baron, auf dem Gut zu arbeiten, wenn er nicht will. Frei sind wir, frei wie die Vögel.« Marie hatte ziemlich laut gesprochen. Am Kachelofen waren die Gespräche verstummt. Die Männer lauschten herüber. Der Junge schreckte aus seinem Halbschlaf auf. Er sah die roten Flecken am Hals der Mutter, die sie immer bekam, wenn sie sich erregte.
    »Die Menschen sind keine Vögel, Frau Marie, und die Freiheit des Menschen ist eine andere als die der Vögel. Die Vögel fliegen fort, wer weiß, was sie treibt. Die Bauern aber hocken hier, buckeln vor dem Herrn und bearbeiten das Land des reichen Mannes, so lange sie denken können. Sie sind hier zu Hause. Und was besitzen sie? Hier rund um das Dorf die sandigen Äcker, die sumpfigen Wiesen, die Krüppelwälder auf Russisch-Polen zu, die gehören den Bauern. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Die fetten Weiden, die schweren Böden, der Hochwald, die Jagd, wem gehört das alles? Dem Baron. Das muss sich ändern, wenn sich die Freiheit entfalten soll.«
    Die Männer lachten, standen auf und griffen nach ihren Pelzen. »Hast Recht, Franek«, kicherte Lenski, »ist ein Revoluzzer, ein Politischer, der Lehrer.«
    Sie stapften hinaus. Durch die Tür wehte der Wind die Kälte bis zum Herd. Der Lehrer blieb stumm sitzen.
    »Ihre Heimat liegt näher bei Frankreich, Piet«, sagte der alte Mann zu ihm. »Ihr habt am Rhein die Französische Revolution gespürt. Aber Sie kennen auch das Ende. Alles ist erstickt in Blut und Elend. Hochgespült wurde schließlich Napoleon. Ich sehe die Elendsgestalten manchmal noch im Traum, die sich aus Russland bis in unsere Gegend geschleppt hatten. Nein, Lehrer, die Revolution und das, was folgt, säuft zu viel Blut. Es muss auch anders gehen mit der Gerechtigkeit.«
    »Aber es geht zu langsam, Friedrich Bienmann, wenn es überhaupt geht«, sagte der Lehrer bitter. Er wartete nicht auf eine Antwort und ging aus dem Haus. Mathilde folgte ihm.
    Der Junge sagte Gute Nacht und verschwand in der winzigen Kammer neben der Stube. Er hätte in dem größeren Zimmer bei seiner Mutter schlafen können, als sie vor zwei Jahren hergezogen waren. Aber er hatte die kleine Kammer für sich haben wollen. Er war gern mit seinen Träumen allein. Nur wenn die Angstträume kamen, wenn sein Vater vor ihm weglief mit langen Schritten und er ihm nicht zu folgen vermochte, weil er Bleischuhe an den Füßen hatte, wenn er aufwachte, schweißnass und mit einem Schrei, dann war er froh, wenn die Mutter an sein Bett kam und ihm die Hand auf die Stirn legte.
    Das Fenster stand einen Spaltbreit offen. Er wollte es schließen, bemerkte aber Mathilde und den Lehrer, die, keine zwei Schritte von ihm entfernt, dicht beisammenstanden und miteinander tuschelten. Er lauschte, überrascht, dass es irgendjemanden gab, dem der Rotkohl gefallen konnte. In Leschinen hatten sie gesagt, seine Tante hätte Glück, dass sie nicht ein paar hundert Jahre früher geboren worden sei. Damals hätten sie mit denen, die rote Pfannen auf dem Dach hatten, kurzen Prozess gemacht und sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
    »Es ist eine Frage der Zeit, Mathilde, bis sie mich hier aufspüren«, flüsterte der Lehrer. »Die Polizei in Preußen wird die Suche nicht aufgeben. Noch hält der Pfarrer die Hand über mir. Aber er ist ein sehr alter Mann und seine Hand wird zittrig.«
    »Wenn du nach Amerika willst, dann fahre ich mit.«
    »Du stellst dir das alles zu einfach vor.«
    »Und wie stellst du dir das vor, Piet? Soll ich hier sitzen und darauf warten, bis es dir gefällt zurückzukommen? Wenn du überhaupt in Amerika noch an Liebenberg denkst.«
    »Sage so etwas nicht, Mathilde.«
    »Doch sage ich das. Du wirst es mir auch nicht ausreden. Ich fahre mit, wenn du losziehst.«
    »Warten wir ab, was ich in Danzig erfahre«, wollte der Lehrer sie besänftigen.
    »Warten, warten. Ich soll immer nur warten.«
    Mathilde drehte sich von Piet weg und lief ins Haus. Leise schloss der Junge das Fenster und kroch ins Bett. Durch die Holzwand führte der steinerne Abzug des Kachelofens. Die Wärme tat dem Jungen gut. Er schlief schnell ein. In dieser Nacht kamen die Angstträume nicht. Sie wurden verdrängt vom Traumbild des blonden Mädchens aus der Nachbarschaft, das ein Gänseblümchen im Haar trug und ihm zulächelte.

Der Junge war mit den Nachbarskindern

Weitere Kostenlose Bücher