Der Lange Weg Des Lukas B.
Keiner von uns hat gewusst, dass sie an Bord ist.«
»Auch dieser Mann nicht?«, fragte der Kapitän und wies auf den Lehrer.
»Sorgen habe ich mir genug gemacht, weil Mathilde in Danzig so plötzlich verschwunden ist«, antwortete Piet. »Gewusst hat keiner etwas, ich auch nicht.«
»Das glaube, wer will«, sagte der Kapitän erbittert.
Da trat der Junge ein paar Schritte auf den Kapitän zu und sagte: »Es stimmt, Herr. Mir hat die Mathilde in Danzig einen Brief gegeben.«
»Du also hast dich mit ihr verschworen. Steckst mit deiner Schwester unter einer Decke. Vermutlich hast du auch für sie dem Smutje das Brot gestohlen.«
»Ich habe nichts gestohlen. Geschworen hab ich, ja. Schwören hab ich ihr müssen bei der Gesundheit meiner Mutter, dass ich den Brief erst herausgebe, wenn wir England hinter uns gelassen haben.«
»Wir haben England hinter uns gelassen«, sagte der Kapitän. Sein Gesicht wurde etwas freundlicher. »Geh und hol den Brief.«
Schneller war der Junge nie zuvor ins Steerage gekommen und wieder an Deck gelangt. Der Kapitän streckte fordernd die Hand nach dem Brief aus, doch der Junge reichte ihn dem Lehrer. Der riss den Umschlag auf und las.
»Geben Sie mir das Schriftstück«, herrschte der Kapitän ihn an.
»Es ist ein persönlicher Brief«, widersprach der Lehrer.
»Wie reden Sie mit dem Kapitän, Mann?«, schrie der erste Steuermann.
»Es steht darin«, fuhr der Lehrer fort, »dass ich in das Rettungsboot schauen soll, wenn Luke mir den Brief gegeben hat.«
Dann las er vor: »Du wirst dort suchen, was du nicht findest, und finden, was du dort nicht suchst.«
»Orakelsprüche«, sagte der Kapitän abfällig. »Auf jeden Fall muss der blinde Passagier seiner Strafe zugeführt werden.«
Der Kreis um Mathilde schloss sich wieder und sie verschwand ganz hinter dem dicken Grumbach. Einen Augenblick schien die gewaltsame Auseinandersetzung nicht zu vermeiden zu sein. Der erste Steuermann spannte den Hahn seiner Pistole.
Da rief der Segelmacher: »Seht, im Westen zieht es herauf!« Der Kapitän stieg die Stufen zum Achterdeck hinauf. Er fuhr den Steuermann an: »Stecken Sie endlich die Pistole weg, Broblow.« Dann rief er laut über das Schiff: »Die christliche Seefahrt hat Gesetze. Blinde Passagiere werden danach behandelt. Sind Sie bereit, Mathilde Bienmann, sich einer Verhandlung ohne Widerstand zu stellen und das Urteil anzunehmen?« Der Lehrer griff wieder nach der Ruderpinne, aber Mathilde trat vor und antwortete: »Ja, dazu bin ich bereit.«
Pechschwarz und schnell schob sich die Wolkenwand über den Blauhimmel.
»Wenn wir das Wetter hinter uns haben«, sagte der Kapitän, »dann soll die Verhandlung sein.«
»Bis dahin gehört das Weibsbild eingesperrt«, rief der erste Steuermann.
Der Kapitän wandte sich an den alten Mann. »Bürgen Sie dafür, dass sie zur Verfügung steht?«
»Es ist wohl mein Schicksal, für meine Kinder bürgen zu müssen«, sagte der alte Mann. »Ich bürge.«
»Macht das Schiff klar für den Sturm«, rief der Kapitän.
Der Steuermann schrie: »Passagiere unter Deck! Die Luken dicht! Alle beweglichen Dinge festzurren! Auf geht’s zum Wellentanz.«
Nach einem kurzen Gedränge, Gepfeife, Geschrei lag das Schiff ruhig. Die Segel wurden gerefft. Von den Royalsegeln über die Bramsegel bis zu den Marssegeln, alles, was von den Wellen über Bord geschwemmt werden konnte, lag fest vertäut. Auf dem Meer wurde es still. Ganz leise leckte die Dünung gegen die Bordwand. Der Wind hielt den Atem an.
Die Besatzung starrte auf die düstere Wolkenwand, die den Himmel schon halb überdeckt hatte und deren hell leuchtender gelber Rand hoch über den Masten stand.
Die Passagiere hockten ängstlich in ihren Kojen. Einige murmelten Gebete. Plötzlich quiekten die Schweine schrill und anhaltend. Es war, als ob sie sich vor der Gefahr fürchteten, die auf das Schiff zutrieb.
Mit einem Schlag brach das Unwetter los. Der Schiffskörper wurde emporgeschleudert, niedergedrückt, auf die Seite geworfen. Wellenberge brachen sich, überschütteten das Deck, Wassermassen des Meeres mischten sich mit vom Sturm gepeitschten Regenfahnen, aufheulten die Lüfte, zerrten an den Trossen, rüttelten an den Masten, das Klüversegel barst laut wie ein Kanonenschuss, die Fetzen knallten wie tausend wild geschwungene Peitschen.
Zu viert hielten die Männer auf dem Achterdeck das Steuerruder. Die Matrosen standen an ihren Plätzen, hatten sich festgeklammert, festgebunden. Sie
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