Der Lange Weg Des Lukas B.
danach gefragt, ob Charly vielleicht selber Pläne hat. Er hat den Sohn wie ein Segel in seiner Takelage eingebaut. Möglicherweise hat er sogar Charlys Heiratspläne geschmiedet. Aber niemand kann ungestraft den Kurs eines anderen Menschen völlig bestimmen. Es gibt irgendetwas, selbst im gewöhnlichsten Menschen, das ihn treibt er selbst zu sein.«
»War Charly denn verheiratet? Hatte er Kinder?«, forschte der Junge. Aber zu einer Antwort kam es nicht. Auf dem Deck stampften eilig Füße über die Planken, Geschrei erschallte, die Trillerpfeife des ersten Steuermanns schrillte anhaltend.
Der Segelmacher richtete sich auf, lauschte und befahl schließlich dem Jungen schroff: »Hilf mir, schnell! Ich muss an Deck.«
Der Junge stützte den Mann. Die Kombüse stand leer, die Tür war nicht verschlossen. Der Segelmacher kletterte vor dem Jungen den schmalen Aufgang zur Vorderluke empor.
Der Junge folgte dicht hinter ihm.
An Deck war es still geworden. Der Junge sah zwei Menschengruppen, die sich gegenüberstanden. Die Matrosen hatten sich auf dem Achterdeck versammelt. Der Steuermann hielt seine Pistole in der Hand und blickte zornig auf die Passagiere aus dem Steerage, die sich dort, wo das Rettungsboot festgezurrt war, zusammendrängten. Ganz vorn standen der Lehrer und der alte Mann, Schulter an Schulter. Der alte Mann hielt mit beiden Händen sein Beil fest gepackt und der Lehrer hatte eine schwere Ruderpinne zum Schlag bereit hoch über seinen Kopf erhoben. Mitten unter den Zimmerleuten erkannte der Junge einen roten, zerzausten Haarschopf.
»Mathilde!«, schrie er und wollte auf die Gruppe zurennen. Der Segelmacher aber fasste ihn fest am Rock und hielt ihn zurück. Der Kapitän trat aus seiner Kajüte. Auch er trug die Pistole in der Hand.
»Was geht hier vor?«, fragte er mit vor Erregung hoher Stimme.
»Ein blinder Passagier«, rief der erste Steuermann. »Ich entdeckte das rote Weibsbild im Rettungsboot unter der Plane. Ich befahl dem Maat sie aufs Achterdeck zu schaffen. Da ist dieser lange, blonde Mann dazwischengesprungen, der jetzt das Ruder in den Händen hält, und hat den Maat mit der Faust niedergeschlagen. Dann, noch ehe wir eingreifen konnten, hat er die Horde aus dem Steerage zusammengeschrien. Sie wollen mich nicht mehr an das Weibsbild heranlassen.«
Inzwischen drängten sich auch die Zwischendeckpassagiere an Deck.
Sie wollten sich das unerwartete Schauspiel nicht entgehen lassen, hielten aber wegen der drohenden Pistolen einen Abstand zwischen sich und den zum Kampfe bereiten Gruppen und blieben auf dem Vorschiff.
Zaudernd wiegte der Kapitän die Pistole in der Hand.
Der Segelmacher trat neben ihn, fasste ihn leicht am Ärmel und sagte so leise, dass nur der Kapitän und der Junge ihn verstehen konnten: »Gewalt zeugt Gewalt, Kapitän. Denken Sie daran.«
Erst schien es, als wollte der Kapitän die Hand des Segelmachers abstreifen. Aber dann blickte er ihn kurz an, lächelte und sagte: »Danke, Hendrik.«
Er steckte die Pistole in den Gürtel, sodass alle es sehen konnten, und schritt ruhig auf die Zimmerleute zu.
»Was sagen Sie dazu, Meister Bienmann?«
Der alte Mann wunderte sich über den Mut des kleinen Kapitäns, ließ das Beil sinken und antwortete: »Der Maat hat meine Tochter getreten und sie an den Haaren zu Ihnen auf das Achterdeck schleifen wollen.«
»Sie meinen, der blinde Passagier ist Ihre Tochter?«
»So ist es.«
Der Kapitän trat jetzt nahe an die Männer heran. Der Kreis öffnete sich und Mathilde stand dem Kapitän auf wenige Schritte entfernt gegenüber. Sie bot ein Bild des Jammers, die roten Haare waren stumpf und verfilzt, das Gesicht leichenblass, schwarze Schattenringe unter den Augen, das Kleid beschmutzt und zerknittert.
»Wir kennen uns bereits, nicht wahr?«, fragte der Kapitän spöttisch. »Wollten Sie nicht eine Kajüte für die Überfahrt buchen?«
»Ich wollte vor allem mit Piet, meinem Verlobten, auf Biegen und Brechen nach Amerika«, stieß Mathilde hervor.
»Und weil es sich nicht biegen ließ, haben Sie es mit dem Brechen versucht«, sagte der Kapitän scharf. Er wandte sich an den alten Mann. »Das Gesetz hat Ihre Tochter gebrochen. Ich habe Sie für einen ehrlichen Menschen gehalten, Meister Bienmann. Dabei zeigt es sich, dass Sie mit einem blinden Passagier unter einer Decke stecken.«
Der alte Mann fasste sein Beil fester und die Haut über den Knöcheln spannte sich.
»Ich habe von den Plänen meiner Tochter nichts gewusst.
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