Der Lange Weg Des Lukas B.
»Wann werden wir die englische Küste hinter uns haben?«, fragte er.
»Kann nicht mehr lange dauern«, antwortete der Koch. »Wirst es wahrscheinlich bald merken. Im Golf von Biskaya ist es vorbei mit der ruhigen See. Zu dieser Jahreszeit wird dort unsere ›Neptun‹ ganz schön geschüttelt. Deshalb nimm dir einen Schlag von der Suppe und iss vorher noch einmal kräftig. Wenn du nichts im Magen hast, macht dich die See mit Sicherheit krank. Übrigens, wenn die ›Neptun‹ mal schaukelt und dir übel wird, hänge den Kopf, so weit du kannst, nach unten. Dann ist es am besten zu ertragen.« Er schöpfte dem Jungen einen Blechnapf bis an den Rand voll. »Aber lass dich nicht von dem Pack im Zwischendeck sehen. Es gibt sonst böses Blut. Schließlich hast du keine Kajütenpassage bezahlt.« Er schöpfte noch einen Napf voll mit Suppe und achtete darauf, dass er ein paar Fleischstücke erwischte. »Am besten trägst du Hendrik die Suppe hinüber. Ihm geht es heute nicht gut.«
»Mache ich«, antwortete der Junge und ging an dem Treppenaufgang, der zur Vorderluke führte, vorbei in die Segelkammer. An das leichte Wiegen des Schiffes hatte er sich bereits gewöhnt, sein Schritt war breitbeinig, sicher geworden und er verschüttete nichts von der Suppe.
Hendrik Majolle lag flach auf dem Rücken. Seine Nase stach weiß aus dem eingefallenen Gesicht heraus und die Lippen hatten sich bläulich verfärbt. Sie pressten bei jedem Atemzug die Luft zu einem Pfeifton.
»Hendrik!«, rief der Junge ihn leise an. »Hendrik, der Koch schickt mich mit der Suppe.«
Der Segelmacher schlug die Augen auf, winkte zunächst, ohne zu dem Jungen hinzusehen, unwillig ab, richtete sich aber dann doch auf. »Dort hängt der Löffel«, sagte er und zeigte zur Wand. Dicht neben dem noch halb im Balken verborgenen Neptun hatte der Segelmacher seine Sachen an einigen Nägeln aufgehängt, den ledernen Werkzeugbeutel, einen ledernen Nähhandschuh, den er allerdings nie benutzte, das Fetthorn mit den Nadeln, den Seesack, die Blechtasse und eben den Holzlöffel.
Der Junge reichte ihm Schüssel und Löffel. Der Segelmacher schnüffelte an der Suppe und aß ein wenig davon. Es sah aus, als müsse er sich einige Bissen hineinzwingen. Längst hatte der Junge seine Schüssel leer gekratzt, als der Segelmacher endlich den Rest zur Seite stellte und den Löffel abwischte.
»Charly war ein Schlappschwanz«, stieß er unvermittelt hervor.
»Wieso?«, fragte der Junge empört. »Er war groß und konnte einen Zweizentnersack, ohne abzusetzen, in die Mehlkammer tragen.«
»Du scheinst Charly ja zu kennen, besser zu kennen als ich«, spottete der Segelmacher. »Aber du hast richtig geraten, harte Muskeln hatte er und starke Knochen auch. Aber innen, weißt du, innen, da war er ein Schlappschwanz. Hat sich sein ganzes Leben nicht auf eigene Füße stellen können, brauchte immer irgendeinen, der ihn stützte. Dabei, und das war das größte Elend, sah er das selber ganz klar. ›Ich möchte endlich einmal der Charly sein‹, hat er mir mal gesagt, ›und nicht immer der Sohn eines angesehenen Mannes.‹ Aber als er schließlich versuchte sein eigenes Leben zu leben, war es vielleicht schon zu spät für ihn.«
»Wen meinte er damit, als er von dem angesehenen Manne sprach, der sein Vater war?«
»Das weiß ich nicht genau. Darüber hat er nie ausführlich gesprochen. Aber ich nehme an, sein Vater war eine Art König oder so was.«
»König? Sagtest du König?«, fragte der Junge und er begann zu zweifeln, ob der Segelmacher noch klar bei Verstand war. Vielleicht redet er im Fieber, dachte er.
»Na, du weißt doch, wie es bei einem König ist. Er befiehlt und alle müssen ihm gehorchen. Wenn der Vater König ist und er hat einen Sohn, dann wird der auch König, ganz gleich, ob er will oder nicht.«
»Daran habe ich noch nie gedacht«, gestand der Junge.
»Noch viel schlimmer kann es einem Königssohn ergehen. Er muss lernen, was ein König können muss, er muss wahrscheinlich sogar die Frau heiraten, die man für ihn als Königin aussucht. Er muss, er muss, er muss. Was er selber will, danach wird er nicht gefragt. Noch nie habe ich zum Beispiel gehört, dass aus einem Königssohn ein Segelmacher geworden ist.«
»Und du nimmst an, Charly war ein Königssohn?«
»Na, ob gerade ein wirklicher Königssohn, das weiß ich nicht. Aber so ähnlich wie ein Königssohn, so muss es ihm wohl ergangen sein. Sein Vater hat für ihn gedacht, hat nicht lange
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