Der Lange Weg Des Lukas B.
gebraucht, bis er, ohne sich zu ducken, den Sprung gewagt hat. Mit Menschen dauert’s sicher länger. Ist ein Weg von tausend kleinen Schritten. Denken Sie daran, kein Kampf, kein Blut zwischen Matrosen und Zimmerleuten vor dem Sturm, als sie sich gegenüberstanden, die Hände an den Waffen. Vielleicht kein Blut, wenn bald der blinde Passagier verurteilt wird. Das, Kapitän, sind solche Schritte auf dem weiten Weg.« Der Kapitän lief unablässig hin und her, als wollte er immer aufs Neue die Kajüte ausmessen.
»Du jagst einem Traum nach, Hendrik. Lass es gut sein für heute.«
»Gibt es sonst noch etwas, Sir?«
»Nein, Hendrik. Was macht der Husten?«
»Ist etwas besser, Sir. Kann ich jetzt gehen?«
»Ja, Hendrik, geh.«
Als der Segelmacher an der Kombüse vorbeikam, sah er den Jungen bei Jonas sitzen. Der Smutje rief: »Heute geht’s dem Rotschopf an den Kragen, Hendrik. Schon gehört?«
»Ja, Jonas.«
»Ich hab dem Luke erzählt, dass die Mathilde wohl die Galionsfigur ersetzen muss und vorne auf den Klüverbaum gebunden wird und dort für ein paar Stunden, jedes Mal wenn eine Welle kommt, das Salzwasser schmecken kann.«
»Jage dem Jungen keinen Schrecken ein, Jonas.«
»Wieso, Hendrik? Meinst du, der Kapitän lässt fünfe gerade sein? Früher ist ein blinder Passagier am Kielholen nicht vorbeigekommen.«
»Wie geht das genau?«, fragte der Junge ängstlich.
»Ein Tau wird unter dem Schiffsrumpf durchgezogen und mit dem einen Ende an die Steuerbordrah geknüpft. Dem Verurteilten binden die Matrosen aus dem Ballast des Schiffes einen dicken Stein an die Beine.«
»Einen Stein?«
»Ja. Der soll den Körper in die Tiefe ziehen. Dann wird das andere Ende des Taus dem Schuldigen fest um den Leib geschlungen und von der Backbordrah stößt ihn der Bootsmaat in das Meer. Der Stein zieht ihn hinunter. Wenn der Körper tief genug gesunken ist und nicht mehr am Schiffsrumpf entlangschleifen kann, hieven ihn die Matrosen an Steuerbord wieder herauf und er hat das Schiff von unten gesehen.«
»Und?«
»Wenn die Strafe nur ›einmal kielholen‹ hieß, dann kam der blinde Passagier mit dem Leben meist davon.«
»Und sonst?«
»Wenn es bei schweren Verbrechen öfter ging, dann schluckte er zu viel Wasser und ertrank. Oder es schnappten ihn die Haie.«
»Und das soll Mathilde aushalten?« Dem Jungen war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen.
»Lass den Smutje schwätzen, Junge«, versuchte der Segelmacher ihn zu beruhigen. »Bei Mord oder Totschlag mag das Urteil so aussehen, aber doch nicht bei einer erschlichenen Passage. Schon gar nicht, wenn der blinde Passagier eine Frau ist. Außerdem ist unser Kapitän kein brutaler Mann.«
»Der Steuermann wird’ s ihm schon einflüstern, Hendrik. Er sieht aus wie ein Pausbackenengel und ist doch der böse Geist an Bord«, nuschelte Jonas und schaute ängstlich zur Kombüsentür hinaus, ob nicht das Ohr des Steuermanns in der Nähe sei. »Schwätz bei den Zimmerleuten nicht weiter, Luke, was der Smutje dir erzählt hat«, rief der Segelmacher. »Sie werden sonst versuchen die Frau dem Gericht zu entziehen. Und das ist Meuterei, die selbst der friedlichste Kapitän nicht dulden kann.«
»Ist gut«, stimmte der Junge zu.
Als er wieder im Steerage war, hielt er sich an das, was der Segelmacher ihm geraten hatte. So kam es, dass sich kurz vor vier der alte Mann, der Lehrer und Mathilde ohne große Angst auf den Weg in die Kapitänskajüte machten. Dem Jungen allerdings waren die Hände schweißnass vor Aufregung. Der Kapitän saß hinter seinem Tisch. Der erste und der zweite Steuermann hatten ihre Plätze an den Kopfenden des Tisches. Zwei Matrosen, mit Flinten bewaffnet, standen hinter dem Kapitän mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und zwei weitere, einer davon der Segelmacher, hatten sich zu beiden Seiten der Tür postiert. Auf dem Tisch lag eine dicke, geschlossene Bibel und ein etwas dünneres Buch, auf dem in Goldbuchstaben Das Seerecht aufgeprägt war.
»Ich eröffne die Verhandlung«, begann der Kapitän. Er blickte Mathilde lange an. Diese Mathilde schien eine ganz andere Frau zu sein als die, die der Bootsmann vor ein paar Tagen aus dem Boot gezerrt hatte. Ihr rotes Haar war gewaschen und die Kräusellocken hatten sich durch den Zopf kaum bändigen lassen. Die vor Erregung geröteten Wangen, die Sommersprossen auf der Nase, die vollen, leicht geöffneten Lippen, die glänzenden Augen: Jeder sah, Mathilde war schön.
»Beginnen Sie,
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