Der Lange Weg Des Lukas B.
froren, da erhob sich von allen Dächern zugleich der Taubenschwarm, wie auf einen geheimen Befehl, und umkreiste mehrmals den neuen Balken. Die Leute traten ein paar Schritte zurück. Die Tauben ließen sich zunächst auf dem hoch in den Himmel ragenden längeren Balkenende nieder, an dem der Eimer sich im Winde wiegte, hüpften dann aber Stückchen um Stückchen der Trinkschale zu. Schließlich setzten sich gleich fünf an den Rand der Schale, senkten und hoben die Köpfchen und schluckten das frische Wasser.
Sie hatten den neuen Balken angenommen. Die Dorfbewohner wollten den Tauben nicht nachstehen. Von diesem Tage an begegneten sie unserer Familie so, als ob wir schon Jahre unter ihnen gelebt hätten. Als nun mein Onkel Johannes sich mit der schönen Hannah verlobte, da war das ein Fest für das ganze Dorf. Uns ging es in diesem Winter nicht schlecht. Der Baron von Knabig auf dem Gut hatte bald heraus, dass mein Großvater ein geschickter Handwerker war. Es gab Arbeit genug.
Aber dann kam mit einem preußischen Reiter aus dem Osten die Nachricht, Napoleons Heer sei in Eis und Schnee zerschlagen worden. Die Russen hätten zunächst ihr wunderschönes Moskau angezündet. Die prächtigen Holzpaläste, die stolzen Kirchen und die vielen tausend Holzhütten wären in einem mörderischen Feuer in Schutt und Asche gesunken. Die Franzosen, die geglaubt hatten, sie hätten mit der Hauptstadt auch das ganze Land erobert, mussten mitten im Winter zurückfliehen, wenn sie nicht Hungers sterben wollten.
An der Beresina sei es Ende November dann zu einer erbitterten Schlacht gekommen. Das Eiswasser des Flusses habe sich rot gefärbt vom Blut der Russen und Franzosen. Napoleon selbst sei bei Nacht und Nebel mit wenigen Vertrauten in einem Schlitten geflohen und habe seine Soldaten schmählich im Stich gelassen.
›Der feige Hund‹, sagte mein Großvater.
In den folgenden Tagen verschwanden einige junge Männer aus dem Dorf. Es lief das Gerücht, dass sie mit dem jungen Baron losgezogen seien und zum preußischen Landsturm wollten. General Yorck sei dabei, ein preußisches Volksheer zu sammeln. Er wolle Napoleon den Rest geben und ihn endgültig aus dem Lande verjagen. Zunächst aber war von Yorck wenig zu spüren. Stattdessen zogen immer wieder versprengte Franzosen durch Liebenberg, forderten Brot und Futter für die Pferde und die Dörfler gaben von dem, was sie hatten, denn die geschlagenen Soldaten waren jämmerlich anzusehen und die Säbel saßen ihnen locker in der Scheide. Von den fast 600000 Reitern und Fußtruppen, die im Juni 1812, noch singend und frisch, ausgezogen waren, kehrten nur wenige zurück, zerschunden, todmüde, fiebrig, verkrustetes, schwarzes Blut in nachlässig geschlungenen Verbänden.
›Das ist das wahre böse Gesicht des Krieges‹, sagte Großvater bitter.
Mitte Dezember, gegen Abend, trabte ein Trupp von etwa dreißig französischen Reitern in das Dorf. An der Spitze ritt ein junger Leutnant. Er fragte nach dem Schulzen und bat darum, dass seine Leute Quartier für die Nacht bekämen. Für Essen und Trinken wolle er bezahlen. So höflich hatten Soldaten schon lange nicht mehr mit uns geredet. Die meisten befahlen, drohten, schimpften. Der Leutnant, sein Trompeter, ein Knabe fast, und sechs Mann wohnten in unserem Haus. Mutter hatte den Leuten in der ehemaligen Gaststube ein Strohlager gerichtet. Der Leutnant bekam die Kammer meiner Eltern.
Am nächsten Morgen in aller Frühe ließ der Leutnant zum Sammeln blasen. Die Pferde wurden am Brunnen getränkt. Aber zum Aufsitzen kamen die Reiter nicht. Die Tiere begannen unruhig zu werden, stampften aufgeregt, keilten schließlich aus und versuchten auszubrechen. Schaum trat ihnen vor das Maul, sie zuckten in Krämpfen und verendeten elendiglich. Auch ein Soldat, der nur einen kleinen Schluck von dem Wasser getrunken hatte, wand sich vor Schmerzen und wurde in unser Haus getragen. ›Das Wasser ist vergiftet worden.‹ Großvater sprach aus, was alle dachten. Der Leutnant stand fassungslos und blass bei seinen Soldaten.
Er rief auf Französisch ein paar Befehle. Die Soldaten schwärmten aus, jeweils zu dritt, und trieben alle Dorfbewohner am Brunnen zusammen. Der Verwalter des Gutes, der gerade mit den beiden Töchtern des Barons im Schlitten ins Dorf gekommen war, wurde mit den Baronessen ohne viel Federlesens ebenfalls zum Brunnen getrieben.
›Wer hat den Brunnen vergiftet?‹, rief der Leutnant.
Keiner meldete sich. Der Dorfschulze wollte
Weitere Kostenlose Bücher