Der Lange Weg Des Lukas B.
Immerhin war er ein Zimmermann. Als er mit Ach und Krach die Probezeit bestanden hatte, da habe ich ihm selbst mit einem ausgeglühten Nagel das Loch in das Ohrläppchen gestoßen. Der Goldschmied aus Ortelsburg hat schon geschwitzt, wenn wir Zimmerleute ihn riefen. Es ist gar nicht so einfach, einen Ring ganz dicht am Ohr so fest zu schmieden, dass man die Naht nicht mehr sehen kann.«
»Außer den Zimmerleuten haben nur die Zigeuner manchmal solche Ringe im Ohr«, sagte der Junge.
»Nun, von den Zigeunern liegt uns Zimmerleuten schon etwas im Blut. Was bin ich schon mit meiner Kolonne in der Welt herumzigeunert. Von einer Baustelle zur anderen bin ich mit meinen Leuten gezogen, oft viele hundert preußische Meilen von zu Hause weg.«
»Aber wir haben ein Dorf, ein Haus, wohin wir immer wieder zurückkehren.«
»Stimmt, Junge. Aber das ist mehr ein Zufall gewesen, dass die Bienmanns sich endlich in Liebenberg festsetzten.«
»Ein Zufall? Erzähl doch mal, Großvater.«
»Tja, Jungchen, mein Vater hat mir die Geschichte oft und oft erzählt und ich wundere mich selbst, dass ich sie so lange in mir vergraben habe. Die Bienmannsfamilie stammt nämlich aus dem Moselgebiet. Da sind so um 1800 die Franzosen in das Land eingefallen. Die Bienmanns hatten vorher oft für Klöster und Kirchen gearbeitet. Aber Napoleon hat 1803 die Kirchen bettelarm gemacht und ihnen kurzerhand jeglichen Besitz weggenommen. Die Priester und Mönche konnten keine Arbeiten mehr vergeben, ja, sie mussten selber sehen, wo sie blieben.
Das gefiel meinem Großvater nicht. Er hatte sein Misstrauen zu laut und an den falschen Orten hinausposaunt. Den Napoleon hat er einen Bluthund genannt. Das blieb den Franzosen nicht lange verborgen.
Jedenfalls hat mein Großvater mitten in einer Nacht die ganze Familie zusammengerufen. Mein Vater Martin, damals 21 Jahre alt, war Großvaters ältester Sohn. Außer ihm gab es noch drei jüngere Söhne, Paul, Konrad und den siebenjährigen Knaben Johannes. Meine Großmutter saß mit verheulten Augen auf der Bank hinter dem Tisch.
›Wir packen unsere Pferdewagen‹, sagte mein Großvater. ›Napoleon, unser großer Befreier, will mir an den Kragen. Ich hab’s gesteckt bekommen. Haus und Anwesen, ja, die ganze Zimmerei, alles soll beschlagnahmt werden. Mich wollen sie vor Gericht stellen. Aber ich habe ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich habe das Haus und das Geschäft heute Nacht verkauft. Den Notar, den Napoleon selbst eingesetzt hat, haben wir aus dem Bett getrommelt und den Vertrag rechtskräftig gemacht. In seinen eigenen Gesetzen hab ich den Franzosen gefangen.‹
›Und was wird aus dir, aus uns?‹, fragte Martin.
›Wir packen und ziehen davon. Noch heute Nacht.‹
›Wohin sollen wir gehen?‹, fragte Johannes.
›Weit werden wir gehen, Kind‹, antwortete mein Großvater. ›Sehr weit. Denn eins weiß ich sicher: Der Rhein hält den Franzosenkaiser nicht auf. So einer gibt sich nicht zufrieden mit dem, was er hat. Er will die Welt regieren. Deshalb ziehen wir weit nach Osten. Russland ist ein gastfreundliches Land. Es gibt in Russland viele Deutsche. Wir Bienmanns verstehen unser Handwerk. Wir ziehen nach Osten.‹
Und so geschah es. Mit Sack und Pack fuhren sie in ebendieser Nacht noch los und verließen die kleine Stadt. Als sie für ein paar Monate im Hannoverschen arbeiteten, fand mein Vater ein Mädchen, das ihn wohl heiraten wollte. Aber ihre Familie setzte alles daran, diese Hochzeit zu verhindern. Welcher Baron aus einem alten hannoverschen Geschlecht hätte wohl die Tochter an einen durchreisenden Zimmermann verheiraten wollen. Das junge Fräulein von Herzberg dachte aber anders. Es fand sich ein Dorfpfarrer, der sie heimlich traute. Niemals hat meine Mutter in späteren Jahren gejammert aus dem Herrenhaus fortgelaufen zu sein. Sie hatten sich sehr lieb, meine Eltern. Meine Mutter zog also mit nach Osten. Aber das ging viel langsamer vor sich, als mein Großvater es sich zunächst vorgestellt hatte. Wenn sich Arbeit fand, bezog die Familie ein Haus und blieb oft Monate an einem Ort. Im Pommerschen verbrachten die Bienmanns vier Jahre. Dort wurde ich geboren. Napoleons Soldaten haben uns auf unserem Weg nach Osten dann überholt.
1812 stießen die Heere des Franzosenkaisers weit nach Russland hinein. Der Winter kam früh und überraschte die Soldaten und auch unsere Familie. In Liebenberg, dem winzigen Nest, mietete mein Großvater ein leer stehendes, ehemaliges
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