Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
Vom Netzwerk:
schob die Trillerpfeife zwischen die Lippen, doch kein Ton kam heraus, keiner.
    Da stürzte Estragon aus dem Telegrafenzimmer, lief, hinkend, so schnell es ihm möglich war, vorbei an den Waggons, die sonst Schafe transportierten, zog im Laufen seinen neuen, weißen Pullover aus und streckte ihn einer Hand entgegen, die Siyakuus Hand gewesen sein musste. Erst der vorgestellte Fuß eines Postens brachte Estragon zu Fall.
    In diesem Moment riss der Offizier die Pfeife vonHans’ Lippen, dass die Schnur, an der sie um seinen Hals befestigt war, zerriss, und blies wütend hinein. Wütend und gellend ertönte der Pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung. Reisende mit Mantel und Koffer sollten sich in Verdammte verwandeln, besitzlos, rechtlos.
    Das, Helder, sind die Bilder, die wir kennen: Waggons, vollgepfercht mit Menschen. Menschen, die aus Güterwagen klettern, springen, stolpern, stürzen … Kranke gestützt, Sieche getragen, Tote herausgeworfen … Bilder von Fotos, Bilder aus Filmen, Bilder, endlos montiert und immer wieder um neue, den alten gleichende Bilder ergänzt, endlose Züge des Leidens.
    Vier Jahre später, nach dem Ende des Großen Krieges, verurteilte ein türkischer Strafgerichtshof den Innenminister und drei weitere Menschenausrotter zum Tode. Allerdings war Talaat Pascha da schon ins Exil entwischt, auf einem deutschen Kriegsschiff. Er hatte so darauf verzichtet, zu seiner Verteidigung mehr als anderthalbtausend Todesurteile anzuführen, die er an osmanischen Militärs und Beamten habe vollstrecken lassen, weil sie sich an Armeniern vergriffen hätten. Ob er dies wenigstens dem Attentäter zurief oder sterbend nachflüsterte, wissen wir nicht.
    Nachdem die Pistolenschüsse des armenischen Studenten den früheren bulgarischen Postbeamten, ehemaligen jungtürkischen Revolutionär, entlassenen osmanischen Innenminister und exilierten Großwesir Mehmet Talaat auf den Straßen Berlins tödlich verletzt hatten, fand Hans Kaspar im
Cottbuser Anzeiger
aus dem Plädoyer eines deutschen Generals zitiert.
    Der ehemalige Chef des osmanischen Feldheeres, Fritz Bronsart von Schellendorf, äußerte Verständnis für Talaats radikale Maßnahmen:
Der Armenier ist wie der Jude außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher
Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte.
    Als Ahmad vor dem abfahrbereiten Zug gesessen hatte, war er von dem osmanischen Offizier angefahren worden: Was scheren dich die Ungläubigen, Derwisch? Was schert dich ihr Unglück?! Verschwinde!
    Ahmad hatte entgegnet: Ihr Unglück – unser Unglück, ihre Toten – unsere Toten, ihre Opfer – unsere Opfer. Es sind immer...
     
    ... unsere Opfer, dachte Hans Kaspar Brügg, und wir sehen ihn noch immer im Jahr 1921 unweit des Gasthofes »Zur Schwanenweide« durch taunasse Maiwiesen laufen, als könne er einer Erinnerung davonlaufen, die ihn abhielt von freundlicheren Gedanken.
    Er wollte endlich fertig werden damit.
    Er sah, wie Gänse und Schwäne seine Wimpel und Fähnchen auf den Feldern missachteten und sich gütlich taten an der jungen Saat. Da dachte er wieder an die Tänze mit Henriette und an die Tänze mit Erdmuthe, an ihre Worte, ihre Blicke, ihre Gesten. Frisch wie junge Saat. Er beschloss, sein Herz, dieses nimmersatte, rastlose Sologeflügel, endlich heimisch zu machen auf Niederlausitzer Feldern. Es sollte ihm sogar für einige Jahre gelingen.

X
    Am Morgen nach der durchtanzten Walpurgisnacht lagen auch die Schwestern Stickenbacher noch wach, in einem Zimmer, Bett an Bett.
    Pst, Henriette, die Mutter. Nicht so laut!
    Komm näher, Erdmuthe, rück ran!
    Nun also Hemd an Hemd unter einer Decke. Sie plaudern und kichern, ihre Worte, mehr noch ihre Gedanken, umgarnen von fern den Tänzer, den Prinzen, den Elfenfänger von den Wiesen. Mal schwärmerisch: ach, diese Augen, so schön, so dunkel, man könnte ganz versinken rein. Mal spöttisch: ein Kavalier aus der Tanzbärenschule.
    Sie fanden kein Ende, und wäre Verliebtheit ein Hauch, sie machten einen Sturmwind daraus. So dass ihrer Mutter Odische Mühle mit Heftigkeit sich drehen müsste, holte man sie aus dem Schrank.
     
    Ihre Mutter, Charlotte Stickenbacher, jene Frau, die aus des Kaisers Hand die Kinderklapper, wir erinnern uns, empfangen durfte und weiterreichen an Erdmuthes fein gepolsterte Säuglingshand, jene

Weitere Kostenlose Bücher