Der Lavagaenger
Frau betrieb, seit ihr Gatte und Leutnant der Reserve im Jahr 1917 an einem sonnigen Platz in Flandern am Senfgas verstorben war, mit Leidenschaft die Suche nach dem Od.
Jene im Jahre 1862 erstmals vom Freiherrn Reichenbach auf fotografische Platten gebannte Strahlung erregte beim bekümmerten Blättern in den hinterlassenen Büchern ihres Gatten anfangs nur deshalb Charlottes Aufmerksamkeit und Sympathie, weil diese zwei Buchstaben,
Od
, ihr klangen wie der verkürzte Seufzer des Namens eines BerlinerTanzlokals mit Namen »Odeon«. Dort nämlich hatte sie einundzwanzig Jahre zuvor ihre erste Verabredung mit dem jungen Cottbuser Tuchfabrikanten Karl August Wilhelm Stickenbacher gehabt.
Hatte? Nein, gehabt hatte, dachte Charlotte, jetzt ist alles nur noch vollendete Vergangenheit.
In jenem Moment, als sie die Trauer über den Heldentod ihres Mannes, der auf eine poröse Gummidichtung seiner Gasmaske zurückzuführen war, zu überwältigen drohte, sah sie vor sich den klapperschwingenden Kaiser. Aber nicht nur die Frage, ob all das, was jenem Moment an Unglück gefolgt war, zu verhindern gewesen wäre, trieb sie fortan um, sondern auch und vor allem, ob ihren Töchtern ein Witwendasein zu ersparen sei. Kurz: Ließen sich aus Feldherren Musikanten machen?
Selber eine Sensitive, nervös und von Schlaflosigkeiten gepeinigt, vermochte Charlotte in finsteren Räumen die odische Lohe, sei es an Dingen oder an Menschen, wahrzunehmen.
Interessiert verfolgte sie, nebenher die kartoffelschälenden Töchter beaufsichtigend, was die ihr monatlich zugehenden »Psychischen Studien« an aktuellen Forschungen über das inzwischen Biostrahlenkraft genannte Agens vermeldeten.
Bald begann sie selbst, ihre Töchter durch Auflegen der Hand zu behandeln, was bei leichtem Kopfweh, wie sie in ihren wissenschaftlichen Tagebüchern vermerkte, zu gutem, bei Katarrhen zu weniger Erfolg führte.
Später befasste sie sich mit der »Gewinnung photographischer Lichtbilder lediglich durch die odisch-magnetische Ausstrahlung des menschlichen Körpers« nach Ludwig Tormin. Sie wies ihren Prokuristen an, einen kleinen, fensterlosen Raum neben dem Websaal, in dem bis dahin Stoffmuster gelagert hatten, als eine Dunkelkammer herrichten zu lassen und Fotoplatten zu beschaffen. Anschließend begabsie sich in die Reparaturwerkstatt ihrer Firma und beauftragte den Schlosser, ihr ein metallenes Kästchen von der Größe eines Quartbandes anzufertigen und in dessen Deckel ein Kreuz zu schneiden. Zwei Tage später brachte ihr der Prokurist das Kästchen und die Meldung, dass die Dunkelkammer bereit sei. Mit dem Kästchen in der Hand begab sich Charlotte in die Kammer und tat, wie Tormin es beschrieb. Sie legte eine Fotoplatte in das Kästchen und dann ihre Hand auf den geschlossenen Deckel. Sie wiederholte das Experiment einige Male, wobei sie auch einmal ihre Stirn gegen den mit der Kreuzöffnung versehenen Deckel drückte. Anschließend brachte sie die Platten zu einem ihr bekannten Fotografen zur Entwicklung. Obwohl die fertigen Fotografien kaum mehr als einen flüchtigen Lichtfleck zeigten, ließ sich Charlotte nicht beirren. Ja sie bestellte sogar andere Deckel mit anderen Mustern, Mäandern, Rosetten und Monden.
Eines Tages, nach zahlreichen Versuchen, bei denen sie des Öfteren vom Prokuristen mit Fragen gestört wurde, konnte sie sogar zu einer kleinen Ausstellung ihrer Bilder einladen. Sehr dekorativ, urteilte der
Cottbuser Anzeiger
, aber wissenschaftlich?
Die Ignoranz der Presse hielt sie jedoch nicht davon ab, in mehreren Odisch-magnetischen Vorträgen an der Volkshochschule eine Vision zu entwickeln, die ihr sowohl heftige Kritik eines monarchistisch gesinnten Journalisten als auch einen Boykottaufruf des KPD-Ortsverbandes eintrugen.
Charlotte Stickenbachers Vision war ein Bild in veränderter Vergangenheit: von Angesicht zu Angesicht mit dem Monarchen. Höchste Konzentration, bis die Biostrahlenkraft zu fließen beginnt, bis Charlottes Od in Resonanz tritt mit der herrschaftlichen Strahlung und Wilhelms kriegerisches Odium sich auflöst wie morgendlicher Nebel in der Frühlingssonne.
Zur Übung baute sie nach Anleitung der »Psychischen Studien« ein magnetopathisches Gerät, von ihr einfach
Odische Mühle
genannt. Das Gerät, ein schlichter, von einer mit Metallflügeln bestückten Achse durchzogener Pappzylinder, vermochte das Od in Bewegung umzusetzen. Stellten nun zwei Menschen zwischen sich den Pappzylinder, so die Hypothese des
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