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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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fragte nach den Überlebenden: Wo finden wir sie? Helfen Sie uns! Bitte.
    Rößler machte eine Geste ins Ungewisse. Helfen? Wissen Sie, junger Mann, wie viele Telegramme ich schon zur deutschen Botschaft geschickt habe? Neulich kam endlich eine Antwort, übermittelt aus Berlin. Rößler ging zu seinem Schreibtisch, kramte in einem Stapel von Papieren und zog schließlich ein Telegramm hervor:
… ist die armenische Frage als eine innertürkische Verwaltungsangelegenheit zu betrachten … der Presse gegenüber am Besten zu schweigen …
    Dann rollte er eine Karte aus. Kommen Sie her! Die Leute kommen von überall her, vom Ararat, vom Vansee, vom Schwarzen Meer, aus Stambul. Keiner will sie haben, jeder schiebt sie weiter, wenn man sie nicht gleich dem Mob übergibt. Die Armenier sind Freiwild. Wo die Gendarmen nicht selbst Hand an die Vertriebenen legen, schauen sie weg, wenn Kurden oder Tscherkessen sichüber die Ärmsten hermachen. Wer nur ausgeraubt wird, kann sich glücklich schätzen. Den Rest erledigen Hunger, Durst und Krankheiten. Rößler schüttelte den Kopf, so als könne er seinen eigenen Worten nicht glauben.
    Da, sein Finger, gepflegt und nur leicht von Tabak gefärbt, zeigte auf ein Gebiet in der Syrischen Wüste. Der Weg nach Damaskus ist neuerdings für die Armenier gesperrt. Es gab Beschwerden vom Militär: verstopfte Straßen, die Bahnstrecke blockiert, überfüllte Krankenhäuser, Typhus, von Leichen verseuchte Brunnen … Jetzt schickt man sie südlich des Euphrats entlang. Manche wandern tagelang im Kreis: nach Urfa, von Urfa nach Rakka, von Rakka nach Urfa zurück, neunzig Kilometer durch die Wüste. – Rößler atmete tief, dann sagte er: Kommen Sie morgen früh wieder. Nein, besser nicht hierher. Morgen früh, fünf Uhr, steht ein Automobil vor Ihrem Hotel. Ein Fahrer, Lebensmittel, Wasser, Benzin … Mehr kann ich nicht tun. Aber, es ist riskant, sehr riskant!
    Am nächsten Tag fuhren sie los. Unterwegs konnten sie sogar fröhlich sein, so groß war ihre Gewissheit, Siyakuu zu finden.
    Jetzt, sagte Hans Kaspar, sollte Ahmad bei uns sein.
    Da, Estragon zeigte lachend auf einen Falken, der unter dem flirrenden Himmel vorüberzog: Er ist bei uns!
    Ach, hätte er doch die Schuhe damals mitgenommen aus Konya, hätte er sie doch getragen. Sie werden dich zur Liebe führen, das waren Ahmads Worte. Und er? Er hatte nicht daran geglaubt. Oder doch?
    Wir können nur vermuten, dass seit Arno Brüggs tödlichem Fall über Hans Kaspars Leben ein Gefühl von Schuld gelegen hat. Da jede Vernunft, auch seine, diesen Sturz aber als einen Unfall anerkennen musste, blieb es ein untergründiges Gefühl. Es war wie ein lauernder Schatten, der, sobald man sich ihm zuwandte, verschwand, drehte man sich jedoch weg, kehrte er ebenso schnell zurück.
    Und dann dies: Er hatte auf dem Bahnhof von Konya einen Transport abfahren lassen, hatte tatenlos zugesehen, wie in einem der Waggons seine Liebe davonfuhr.
    Gerade weil Hans Kaspar Ahmads Worten glaubte, hatte er die Schuhe vergessen. Ha, vergessen! Die Feigheit hatte ihn »vergessen« lassen. Wie sollte er Siyakuu gegenübertreten, nachdem er – ja, auch er! – sie in diese Einöde geschickt hatte. Wie sollte er ihren dunklen, fragenden Blick ertragen: Wo seid ihr nun, ihr von der Bahn?!
    Da hatte die Schlange leichtes Spiel, schon während der ersten kurzen Rast, mit ihren Zähnen über den flachen leichten Schuhen den Fuß zu erreichen.
    Obwohl Estragon die Wunde sofort ausgesaugt hatte, war das Gift in Hans’ Körper gedrungen. Er war, als während einer Rast Estragon und der Fahrer dösten, einfach losgelaufen, war völlig orientierungslos in der Wüste umhergeirrt, bis ihn die anderen fanden.
     
    Jetzt, auf dem Weg zur Hayfieldfarm, näherte sich Hans Kaspar einem ähnlichen Zustand, wenn nach nächtelanger Schlaflosigkeit tranceähnliches Versinken und überwache Leichtigkeit einander abwechseln. Er wusste noch immer nicht, was damals wirklich geschehen war und was fiebrige Wachträume gewesen waren. Oder wiederholte sich alles noch einmal und immer wieder?
     
    Was für ein Geruch! Leichter Verwesungsgeruch. Kinder spielen Zielwerfen. Sie johlen, wenn der bärtige Kopf, von Steinen getroffen, vom Zaunpfahl fällt.
    Eine Stimme. Estragons Stimme: Wir sollten ihn begraben!
    Es hat keinen Sinn. Wer sagt das? Der Fahrer? Oder er selbst.
    Hinter der nächsten Anhöhe. Der Geruch wird stärker.
    Einer übergibt sich.
    Ich sagte doch, Sidi, es hat keinen Sinn. Es

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