Der Lavendelgarten
Zimmer. Kerzengerade in einem Ohrensessel am Fenster sitzend wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass die Nacht vorüber wäre und der Morgen anbrechen würde.
Doch dann ermahnte sie sich: Wie konnte sie so egoistisch sein? Venetia und die anderen Agenten setzten sich tagtäglich schrecklichen Gefahren aus. Eine Nacht der geistigen Qual konnte sich damit wohl kaum messen.
Schließlich vernahm Connie Schritte im Flur und das Knarren von Stufen. Als eine der oberen Türen mit einem Klicken ins Schloss fiel, atmete Connie erleichtert auf, weil sie wusste, dass Frederik das Haus verlassen hatte und Sophia ins Bett gegangen war. Connie wunderte sich zwar, dass sie die Haustüre nicht gehört hatte, aber vermutlich war er hinausgeschlichen.
Die Anspannung fiel von ihr ab, und sie legte sich erschöpft ins Bett, wo sie sofort einschlief – und nicht mitbekam, wie die Haustür leise geschlossen wurde, als über Paris die Sonne aufging.
15
Blackmoor Hall, Yorkshire, 1999
Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel, als Sebastian den Taxifahrer bezahlte und Emilies Koffer aus dem Wagen nahm. Blackmoor Hall präsentierte sich Emilie als bedrohlich dunkles gotisches Herrenhaus aus rotem Ziegel. Ein Wasserspeier aus Stein, auf dessen Kopf eine Haube aus Schnee saß und dessen Mund von Wind und Wetter zerfressen war, grinste sie zahnlos vom Bogen über dem Eingang aus an.
Die Umgebung des Hauses ließ sich unmöglich beurteilen; momentan hätte Emilie sich genausogut in Sibirien befinden können. So weit das Auge reichte, sah sie nur weiße, kalte Leere. Sie schauderte unwillkürlich.
»Gerade noch geschafft«, sagte Sebastian. »Hoffentlich kommt der Fahrer gut nach Hause«, fügte er mit einem Blick auf das Taxi hinzu, das sich durch den höher werdenden Schnee zurückkämpfte. »Morgen ist die Straße vielleicht schon unpassierbar.«
»Du meinst, wir könnten eingeschneit werden?«, fragte Emilie, als sie durch den Schnee, der ihr fast bis zum Knie reichte, zur Haustür stapften.
»Ja. Das ist hier fast jeden Winter so. Zum Glück haben wir einen Land Rover und einen Nachbarn mit Traktor.«
»Wenn es in den französischen Alpen schneit, sind die Straßen trotzdem frei«, erklärte Emilie an der Tür.
»Willkommen in England, französische Prinzessin, wo jeder unerwartete Wetterwechsel das Leben zum Stillstand bringen kann«, sagte er schmunzelnd. »Und willkommen in meiner bescheidenen Hütte.«
Sebastian öffnete die Haustür, und sie betraten den Eingangsbereich, der sich nicht deutlicher von dem grellen Weiß draußen hätte unterscheiden können. Alles war in dunklem Holz gehalten: die holzverkleideten Wände, die wuchtige Treppe, sogar der riesige Kamin in der Mitte des Raums hatte eine schwere Mahagoniumrandung. Leider brannte kein Feuer darin, und Emilie spürte im Vergleich zu draußen kaum einen Temperaturunterschied.
Sebastian stellte Emilies Koffer am Fuß der hässlichen Treppe ab. »Im Salon brennt bestimmt ein Feuer. Ich habe Mrs Erskine Bescheid gesagt, dass wir kommen.«
Er führte sie ein Labyrinth aus Fluren entlang, deren Wände mit dunkelgrüner Tapete und Ölgemälden von Jagdgesellschaften bedeckt waren. Am Ende öffnete Sebastian die Tür zu einem riesigen Salon mit kastanienbrauner Tapete nach Entwürfen von William Morris und willkürlich verteilten Bildern.
»Scheiße!«, fluchte er, als sein Blick auf den leeren Kamin fiel, in dem die graue Asche eines früheren Feuers lag. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Hoffentlich hat sie nicht wieder gekündigt.« Sebastian seufzte. »Keine Panik, Schatz, das Feuer ist im Handumdrehen gemacht.«
Emilie setzte sich vor Kälte bibbernd auf das Kamingitter, während Sebastian geübt das Feuer entfachte. Zähneklappernd wärmte sie sich die Hände daran.
»Tau du erst mal hier auf, während ich uns einen Tee koche und rausfinde, was in meiner Abwesenheit passiert ist.«
»Sebastian …«, rief Emilie ihm nach, als er den Salon verließ, weil sie wissen wollte, wo sich die Toilette befand, doch da schloss sich die schwere Tür bereits hinter ihm. In der Hoffnung, dass er nicht zu lange wegbleiben würde, beobachtete Emilie vom Kamin aus, wie sich das Schneetreiben draußen zu einem Sturm entwickelte und der Schnee sich auf den Fensterbrettern häufte.
Emilie wusste nicht allzu viel über England – sie hatte ein paarmal mit ihrer Mutter Freunde in London besucht –, aber ihre Vorstellung von behaglichen englischen Cottages mit reetgedeckten
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