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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giusi Marchetta
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seiner Zelle im dritten Stock.
 
    Die Tür zum Leselabor ist nur angelehnt; ich drücke leicht dagegen. Ich habe keine Angst vor Santojanni, sage ich mir, während auf der anderen Seite irgendetwas auf den Boden fällt, zu Bruch geht.
    De Lucia erblickt mich auf der Türschwelle, macht mir ein Zeichen, dort zu bleiben, dann führt er den erhobenen Zeigefinder an Mund und Nase. Sei still.
    »Es ist alles in Ordnung, Davide. Wir suchen jetzt noch einmal.«
    Santojannis Schuhe kommen und gehen in eigenwilligem Rhythmus. Sie zertrampeln unsere Zeichnungen zu Zanna Bianca , treten auf die defekte Tastatur des Schreibgeräts.
    De Lucia sucht mich im Spiegel der Tür.
    »Du wirst sehen, wir finden die Schnipsel sofort«, sagt er. »Wenn sie nicht hier sind, dann bestimmt in Klassenzimmer 9.«
    Ich weiche in den Flur zurück, renne zur Treppe, stürze ins Förderbüro. Suche auf dem Bücherregal, in den Schubladen, im Schrank. Einen Joghurtbecher finde ich nicht. Er ist nicht da.
    Die Musik, die aus dem Hof hochschallt, ist aggressiv, unerträglich laut. Man entkommt ihr nicht.
    »Maria! Kannst du mir mal helfen?«
    Es ist zwecklos. Niemand antwortet. Es ist niemand da.
    Unter der Computertastatur, den Stühlen, den Plakaten, den Landkarten finde ich nichts. Ich fege Füllfederhalter und Bleistifte von den Bänken, höre sie über den Fußboden rollen. Die Musik ist verstummt: Das Megafon gibt die Platzierungen der Sportwettkämpfe bekannt.
    Gott sei Dank, denke ich – zu früh, wie sich herausstellt, denn kaum ist der Applaus verklungen, dringt vom dritten Stock De Lucias Hilferuf zu mir.
    Emma!
 
    Was machst du, gibst du auf?
    Ich finde den Becher nicht.
    Du findest ihn, schau genau hin.
    Ich schnappe meine Tasche, die ich auf den Boden habe fallen lassen, suche mein Handy. Direkt vor mir, unter einer Bank, liegt ein Becher. Er ist von den Stiften weggerollt, um nicht mit ihnen zusammen gesehen, um nicht verwechselt zu werden. Ich reiße den Deckel weg.
    Mattia.
 
    Völlig außer Atem komme ich im dritten Stock an, den Becher in der Hand wie eine Trophäe. Ich bin noch nicht einmal in der Mitte des Flurs angelangt, da sehe ich ihn schon aus dem Klassenzimmer stürmen. Santojanni schwingt die Hand in der Luft, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Er ist riesig und wird mit jedem Schritt in meine Richtung noch riesiger.
    Um uns herum beginnen die Wände zu zittern: Dunkle Adern von unterschiedlicher Länge schwellen an, gleiten von einer Seite der Mauer zur anderen.
    Ich weiche einen Schritt zurück, nur einen.
    Noch ein paar Meter, und Santojanni steht vor mir. Er senkt den Blick wie Andrea und Tommaso, hat durchsichtig blaue, durch die dichten Brauen böse wirkende Augen und einen Hauch von Bart. Er schwankt vor und zurück.
    »Davide«, sage ich. »Ich habe auf dich gewartet. Hier sind sie.«
    Er setzt mir die Faust aufs Gesicht, streicht an meinem Hals hinab, öffnet sie, um mein Handgelenk zu umklammern. Langsam zwingt er sich, den Griff zu lösen, seine Hand zu öffnen, die Plastikschnipsel entgegenzunehmen.
 
    Die Wände hören auf anzuschwellen, lassen uns in Frieden. De Lucia holt uns ein, presst sich ein Taschentuch an die Nase. Er hat keine Brille mehr auf. Als er uns erreicht, rennt Santojanni los.
 
    Der Notausgang führt zur Feuerleiter.
    Die Feuerleiter führt zwanzig Meter in den Hof hinunter.
    Wir folgen ihm wie zwei verzweifelte Seelen, umschweben ihn vorsichtig von hinten, während er ans Geländer tritt.
    De Lucia steckt sein Taschentuch wieder ein. Seine Nase ist geschwollen, violett: Auf den geplatzten Blutgefäßen zeichnen sich die Umrisse ab, die ein Stoß mit dem Kopf hinterlassen hat.
    Mit einer Armbewegung gibt er mir zu verstehen, dass ich mich links von Santojanni postieren soll, während er ihn rechts flankiert.
    »Davide«, sage ich.
    Wie in einem Alptraum springt Tommaso aus dem offenen Fenster.
    Es ist nicht passiert, Emma , sagt Biagini. Es hätte passieren können, aber es ist nicht passiert.
    »Was machst du da?«
    Santojanni sieht mich nicht, ich existiere nicht. Er hebt den Becher mit den Schnipseln hoch, die er das ganze Jahr über gesammelt hat, die er während der Krise, der Krankheit aufbewahrt und verteidigt hat, schüttelt ihn, lässt die Schnipsel in den Hof fallen, auf die Mitschüler, auf die Lehrer.
    Langsam trudeln Hunderte kleiner weißer Plastikteilchen nach unten, ohne eine genaue Richtung, und wir sind von diesem Schweben derart verzaubert, dass, wenn wir nicht

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