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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Giusi Marchetta
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einströmen, den ich brauche. Hier ist überall Platz, sich hinzusetzen und tief Luft zu holen.
    Doch es ist nicht das Meer, sage ich mir.
    Hör auf damit, sage ich mir.
    Aber es ist doch so, sage ich mir.
    Umso mehr, hör auf damit.
    Der Luftstrom tut gut, reißt alles mit sich fort, ich muss ihn nur gewähren lassen.
    »Wie bitte?« Der zwei Meter weiter weg sitzende junge Mann lässt das Buch, in dem er gelesen hat, auf seine Beine sinken. »Hast du was zu mir gesagt?«
    »Nein, entschuldige.« Sofort stehe ich auf: Gegenüber einer Person, die dich bei einem Selbstgespräch ertappt hat, kannst du dich nicht rechtfertigen.
    »Also gibst du es auf?«
    »Was?«
    »Den Monolog. Schien interessant zu sein.«
    »O Gott.«
    »Nein, ich mache doch bloß Spaß, kein Monolog.« Er schüttelt den Kopf. »Du hast nur ein paar Worte gesagt.«
    Ich schaue ihn mir genauer an: Er ist blond, hat hellblaue Augen und sanfte Züge, sieht sehr gut aus. Er versetzt dem Buch einen Stoß, wie um es endgültig zuzuklappen.
    »Lust auf ein Bier?«
 
    Er heißt Fabio, schreibt gerade seine Diplomarbeit in Maschinenbauingenieurwesen. Sein Buch ist die Biographie eines Genies, das mit ein paar gelungenen Formeln die Mathematik revolutionierte.
    »Er hatte den Kopf voller Zahlen. Und Menschen. Um nicht über die Menschen nachdenken zu müssen, dachte er über die Zahlen nach, und das mit unglaublichen Resultaten.«
    »Wenn er also weniger gehemmt gewesen wäre, hätten wir weniger Resultate bekommen.«
    »Mathematik ist etwas für unglückliche Gemüter«, schlussfolgert er und schlürft sein Bier. Kaum hat er dies gesagt, spüre ich, dass das nicht stimmt, dass die Mathematik eine wunderbare Sprache ist, die wir alle beherrschen sollten. Ich höre eine Stimme. Spüre sie in den Fingern.
    Es ist Gianni.
    »Und was studierst du?«, fragt Fabio.
    »Geisteswissenschaften«, sage ich. »In Neapel.«
    Ich bemühe mich, ihn loszuwerden, aus diesem Bier eine Sache zwischen mir und dem hier anwesenden Blonden zu machen. Aber es ist zwecklos: Es gibt zu vieles, was Fabio nicht über mich weiß.
    »Eigentlich habe ich den Uniabschluss schon. Klassische Philologie.«
    »Machst du Witze?«, fragt er ganz ernst.
    Das Problem bei Latein ist, dass es sich nicht gut anhört. »Aber ich habe ein Erasmus-Jahr in Paris gemacht«, füge ich hinzu, um ein wenig zu punkten. Er lächelt. Es funktioniert. »Ich habe auch eine Weile hier gearbeitet. Der Plan war, hier zu bleiben«, sage ich zum Schluss und bereue es sofort.
 
    Es war eine schwere Entscheidung, die ich binnen zwei Sekunden traf, kaum dass ich die Stimme meiner Mutter gehört hatte: Dem Großvater ging es schlecht. Gianni holte mich vom Flughafen ab und fuhr mit mir sofort zum Krankenhaus.
    »Es tut mir leid«, sagte ich, wobei ich an all die Stunden dachte, die ich ihm am Telefon geraubt und in denen ich darauf beharrt hatte, dass Paris das Richtige sein könnte, die Chance, die wir uns verdient hätten. Ich dachte an seine beiden erfolgreichen Vorstellungsgespräche, an die unterwegs verbrachte Nacht, um seinen 18. Geburtstag zu feiern.
    Er fuhr stur weiter.
    »Ich habe meinen alten Chef angerufen: Er sagt, dass er mir die Stelle wiedergibt, wenn ich hier bleibe.«
    »Tut mir leid«, wiederholte ich. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten.«
    Er nahm meine Hand, eine einzige Bewegung, meine und seine, um das Lenkrad zu drehen.
    »Ich weiß«, erwiderte er.
 
    »Berlin wäre mir lieber«, sagt Fabio. »Warst du schon mal in Berlin?«
    So wird das Leben von nun an sein, denke ich. Als wäre ich von Gianni schwanger, trüge ihn immer in mir.
    »Entschuldige, Fabio, aber ich muss jetzt gehen.«
    Das Bierglas ist noch halbvoll, doch es ist spät geworden, oder zumindest sage ich das. Er begleitet mich ein Stück, bis mir eine Ausrede einfällt. Dann wartet er, bis ich mich ein wenig entfernt habe, bevor er sagt: »Aber solltest du mal wieder nach Turin …«
    Ich drehe mich nur kurz um, so lange, um ihm zuzulächeln.
    Er beendet den Satz nicht, und ich auch nicht.

5
    Ich öffnete die Augen. Inzwischen knallte die Sonne auf uns herunter. Mein erster Sonnenaufgang auf der Autobahn.
    In einem Anfall von Selbstlosigkeit hatte Massimiliano das Radio leiser gestellt, aber die Morgennachrichten drangen trotzdem an mein Ohr, bahnten sich einen Weg durch meine konfusen, traurigen Träume.
    Irgendjemand sagte, dass die Krise bald vorüber sein würde. Ein kleines Mädchen war verschwunden. Es gab transitive
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