Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Augen auf, schließt sie, streckt die Zunge heraus, weint ein bisschen.
Die Frau hält ihn im Arm. Ihre Brust schmerzt in Erwartung, gebissen zu werden. Sie streichelt dem Kleinen über den Kopf, obwohl man ihr abgeraten hat, dies zu tun. Sie fragt sich, ob ihr Mann weinen wird. Kurz darauf kommt er herein und gibt ihr einen Kuss. Er streichelt dem Kleinen über den Kopf und fängt an zu lachen.
Als sie ihn nach Hause bringen, machen sie sich Sorgen wegen der Kanten und Stufen, der Teppiche, über die er stolpern könnte, und der mitten im Zimmer stehen gelassenen Schuhe. Alles in ihrer Wohnung scheint ihnen zu schmutzig und zu gefährlich zu sein. Was für den Kleinen nicht taugt, taugt für niemanden. Es landet ganz oben auf den Schränken, wird ab und zu hervorgeholt und dann vergessen.
Das zusätzliche Zimmer nimmt Gestalt an, wird wesentlicher Bestandteil des Hauses. Für die Wände haben sie eine wassergrüne Tapete mit Gänschen ausgesucht.
Der Kleine isst und schläft. Alles an ihm ist ein Wunder: die Ärmchen, die sich strecken, die Händchen, die zufassen, der Mund, der lacht, zahnlos. Die Außenwelt verliert jegliche Anziehungskraft. Der Ehemann wundert sich, dass er früher Feierabend macht: »Papa« wird das erste Wort des Kleinen sein, das darf er nicht versäumen, und sie ist vor lauter Eifersucht womöglich imstande, ihn anzulügen, es ihm zu verschweigen.
Jeden Tag gibt es in ihrem Haus etwas Neues: die ersten Schritte, der erste Brei, der erste Zahn, die ersten Launen, das erste Filmchen, das erste hohe Fieber, die erste Pockenschutzimpfung, der erste Klaps auf den Hintern, der erste Gewissensbiss, die erste Schultasche, der erste Abschied und das erste Wiedersehen nach der Schule.
Alles geschieht zum ersten Mal und wird ihnen mit der Zeit zur Gewohnheit werden. Als sie ins Arbeitszimmer tritt und ihm verkündet, dass sie erneut schwanger ist, ist es ganz normal, dass sie genau zu wissen glauben, was sie erwartet.
»Es war nicht deine Schuld«, sagt Silvia zu mir, sobald wir sitzen.
Ich nicke mit dem Kopf und tue so, als sei ich mit der Tagesordnung beschäftigt. De Lucia nimmt neben mir Platz. Von der anderen Seite des Tisches mustert mich ein weißhaariger Lehrer über seine Brille hinweg.
»Nicolini, Kunstgeschichte«, flüstert mir De Lucia zu. Ich notiere es mir.
Die Schulleiterin ist eine blonde Mittfünfzigerin, die in ferner Vergangenheit einmal Mathematiklehrerin gewesen ist. Sie beendet das Telefonat, rückt sich die Armbanduhr zurecht.
Die Belcari beginnt:
»Verehrte Schulleiterin, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Klassenkonferenz der 1A tritt zusammen, um über die Eingliederung des Schülers Andrea Riccardi zu diskutieren.«
»Eingliederung?«, unterbricht Miranda sie. »Wir haben bereits Oktober: Er ist bereits zur Genüge eingegliedert worden.«
Die Belcari lächelt.
»Ich werde ein Seminar über die Folgen übertriebener Eingliederung vorschlagen. Aber«, sie hebt die Hand und würgt damit jeden Versuch ab, ihr das Wort zu entziehen, »lasst uns jetzt über Andrea reden.«
Biaginis erste Vorlesung hatte die Trauer um das Wunschkind zum Thema.
»Die Eltern haben neun Monate Zeit, sich vorzustellen, das Kind zu bekommen, das sie sich erhoffen. Wenn dann jedoch das Kind geboren wird, beginnt die Trauer um das Kind, das man sich eingebildet hatte. Dieses Kind gibt es nicht, sie müssen darauf verzichten.
Das Wunschkind ist gesund, hübsch und in der Regel männlich. Es weint praktisch nie, isst, was es auf dem Teller hat, und wandelt es in Energie um.
Die Füße des Wunschkindes sind dazu da, dass es läuft, rennt, bis es zurückgerufen wird. Die Hände fassen zu,ohne zu kneifen: Sie öffnen Schachteln, benutzen mühelos Kugelschreiber und Buntstifte. Der Mund des Wunschkindes sabbert nur in den ersten Monaten: Der Schokoladenfleck, den man nicht mehr wegkriegt, ist Gegenstand von Schnappschüssen, nicht jedoch von Sorgen. Das Wunschkind versteht und kann sich äußern, seine Eltern sind wie die in den Werbespots: sorgenfrei.
Und nun vergleicht mal dieses Kind mit einem aus Fleisch und Blut, das weint, Dreck macht, krank wird. Es ist ein holpriger Vergleich, aber in den meisten Fällen überwinden ihn die Eltern auf natürliche Weise.
Doch wenn aus einem Wunschkind dann ein behindertes Kind wird, kann die Trauer unerträglich werden.«
Riccardi ist ein Nervenbündel. Seine visuellen und akustischen Halluzinationen verschlimmern die autistischen
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