Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
drankommen.
»Noch was?«
Er steckt die Hände in die Hosentaschen: Sein Interesse ist erloschen.
»Grazia kam vor zwanzig Jahren ans Bernini«, sagt er. »Wir waren im selben Kurs. Wir mussten uns mit all den Verrückten, Schwachsinnigen, Zurückgebliebenen herumschlagen, die sich an dieser Schule angemeldet hatten. Aber sie will sich mit ihnen herumschlagen, verstehst du? Ihr liegt viel daran.«
Ich spiele mit meinen Schlüsseln herum. Bin in Eile.
»Aber es ist doch auch eine gute Sache, oder?«
»Frag sie selbst, ob es eine gute Sache ist«, entgegnet er, kommt auf mich zu, bleibt an der Tür stehen. »Du weißt, was mit dieser Bestie passiert ist, wie hieß er gleich? Santojanni.«
Die Schlüssel glühen in meinen Händen.
»Dann lass es dir erzählen.«
»Warum erzählst du es mir nicht einfach?«
Er lächelt. Ein gewalttätiger Zug liegt um seinen Mund.
»Nein, besprich das mit ihr, ihr versteht euch doch so gut«, sagt er.
De Lucia erwartet mich am Schultor. »Wollen wir uns ein bisschen die Beine vertreten?«
Es ist spät und schon fast dunkel. Die Umrisse der Wippen auf dem Spielplatz sind dunkle Schatten, die uns umgeben, die Luft ist kälter geworden und versucht, durch die Mäntel zu dringen, uns krank zu machen.
Deshalb sage ich ja. Ich brauche jemanden, der mir Gesellschaft leistet in dieser Stadt, die so eisig ist, dass sie mir wie eine Strafe vorkommt.
»Man ist mit einer etwas merkwürdigen Bitte an mich herangetreten, und ich habe zugesagt, auch in deinem Namen. Ich hoffe, das war ok.«
»Welche Bitte?«
Wir sind gerade um die Ecke gebogen. Die Schule ist aus unserem Gesichtsfeld verschwunden und wir aus ihrem.
De Lucia zeigt mir das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
»Komm. Es dauert nicht lange.«
Andreas Mutter hebt die Hand, als sie uns hereinkommen sieht. Ich wette, sie hat die Tür keine Sekunde aus den Augen gelassen. Der Mann neben ihr wirkt wie ein Skelett: ausgemergelte Wangen, spärlicher Bart, den Blick auf die Teetasse zwischen seinen Händen gerichtet.
Wir setzen uns zu ihnen. Das Lokal ist der tägliche Treffpunkt einiger alter Leute, die Musik leise, quasi nicht vorhanden, die Einrichtung schlicht.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt die Frau.
»Nichts zu danken, aber es ist kein offizielles Treffen. Schulische Fragen werden in der Schule besprochen.«
Bei diesen Worten schaut De Lucia beide an. Die Frau nickt. Der Mann hält nach wie vor den Kopf gesenkt. Riccardi Senior, nehme ich an.
»Was geschehen ist, tut uns leid. Wir hoffen, der Lehrerin geht es gut.«
»Ihr geht es gut«, bestätigt De Lucia sofort. »Und wie ich Ihnen bereits gesagt habe, kann Andrea in der Klasse bleiben, vorerst zumindest.«
Ich wundere mich über seinen ruhigen Tonfall, über seine Hände, die nicht zittern.
»Es ist aber sehr wichtig, dass er lernt, sich zu beherrschen. Und dass er bis zum Ende des Schuljahres nicht noch einmal in die Luft geht.«
Der Mann macht eine bittere Bemerkung, trifft die Ehefrau genau zwischen die Augen, die sich einen Moment lang verschleiern, dann wieder trocken sind.
»Es geht ja nicht darum, ihn rauszuwerfen«, fügt De Lucia beschwichtigend hinzu. »Wir müssen uns nur vergewissern, dass er sich nichts antut. Und auch keinem anderen.«
Die Mutter nickt zustimmend, schweigt weiter. Es ist der Ehemann, der nun das Wort ergreift.
»Wie geht es denn Ihnen eigentlich?«
Nur mit Mühe verstehe ich, was er meint. »Gut. Es geht mir ganz gut.«
Andreas Vater dreht die Tasse in den Händen und richtet den Blick auf mich. Er glaubt mir nicht.
»Am Anfang war es sehr hart«, sage ich, »aber ich glaube, wenn man einen Zugang findet, um Andreas Reaktionen in den Griff zu kriegen, kommt man mit ihm zurecht.«
Der Mann richtet sich im Stuhl auf. Seine Frau sieht ihn kurz an und atmet dann erleichtert auf. »Genau darüber wollten wir mit Ihnen sprechen. Über den Zugang.«
Ein Mann und eine Frau. Wenn sie abends nach Hause kommen, finden sie dort einen kleinen Jungen und eine Puppe vor. Der kleine Junge ist lebhaft und turbulent. Das reine Erdbeben.
Der andere bewegt sich wenig, muss angeschubst werden. Er spricht sehr selten. Die Frau bestimmt, wann und wie viel er isst, trinkt, schläft. Manchmal weint er die ganze Nacht oder den ganzen Tag hindurch. Er öffnet die Schubladen, an die er rankommt, und bewacht sie dann. Er schaut sich im Fernsehen Pinocchio an. Sonst nichts. Die gelben Legosteine und die Marionetten.
Weitere Kostenlose Bücher