Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
noch auf ihren Beinen. Wenn sie denkt, dass ich mich verändert habe, dass ich zynisch geworden bin, mich geschlagen gebe wie viele andere Lehrerinnen, die die Schulflure bevölkern und nur auf das Gehalt am siebenundzwanzigsten des Monats warten, dann nur deshalb, weil sie die Schlange nicht sieht, die sich unter dem Heizkörper zusammengerollt hat.
»Ich muss dir was sagen.«
Mein Blick ruht auf den Ringen, die sich heben und senken. Der Kopf der Schlange ist irgendwo in der Mitte verborgen.
»Ich habe mich um eine Doktorandenstelle in New York beworben.«
Ich setze mich aufs Bett. Es gibt keine andere Möglichkeit, der Stuhl ist von ihr und der Sessel von ihrem Koffer belegt.
»Es wäre eine Stelle am kulturanthropologischen Institut. Eine Erweiterung meiner Examensarbeit unter einem anderen Aspekt.«
»Das wäre doch toll«, erwidere ich. Ich provoziere die schlafende Schlange, aufzuwachen, durchs Zimmer zu kriechen.
Als wir gerade die Wohnung verlassen wollen, ruft mich Margherita in ihr Zimmer.
Ich gehe rein, ohne die Tür ganz zu öffnen: Heute Nacht ist sie erst um vier von der Arbeit zurückgekehrt.
Ja, sie ist schon da.
Nein, sie ist das erste Mal hier.
Was würdest du uns empfehlen?
Ok, bis später.
Ich schließe die Tür und hole Anna auf dem Treppenabsatz ein.
»Sie wird dir heute Abend ›Hallo‹ sagen, sobald sie wiederhergestellt ist.«
Kaum sind wir auf der Straße, wickelt Anna sich in ihren Mantel. Ich hatte ihr geraten, sich auf das Schlimmste einzustellen.
»Ist sie nett, deine Mitbewohnerin?«
»Ich würde sagen, ja.«
Ehe es mir bewusst wird, fange ich an, von Margherita zu erzählen. Anna hört mir schweigend zu: Mit jedem Wort dringen wir in ein Gebiet vor, das mir allein gehört, das weit weg ist, das ich nicht mit ihr teilen kann, Abende mit Freunden, Plaudern bis tief in die Nacht, voller Vertraulichkeiten über Eltern und befristete Arbeitsverträge.
»Und sie ist mit Savarese zusammen«, unterbricht sie mich.
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht.«
Wir laufen unter den Arkaden lang, suchen Zuflucht vor der eisigen Luft, die aus den Bergen kommt und wie ein Fluch über der ganzen Stadt liegt. Ich lasse Anna Zeit, sich umzusehen, die Unterschiede zu unseren Bürgersteigen, unseren Straßen, unseren Gebäuden zu registrieren. Nur manchmal schalte ich mich ein, um den Eindruck zu dämpfen, den die Buchhandlungen, die öffentlichen Verkehrsmittel, die sauberen Straßen auf sie machen könnten.
»Wohin gehen wir?«
»Das überlasse ich ganz dir: Filmmuseum oder Ägyptisches Museum?«
Ich weiß bereits, dass das bei Anna gar keine Frage ist: Antikes siegt über alles. Aber sie überrascht mich.
»Was hat Margherita empfohlen?«
Sie hasst sie. Margherita ist noch schlimmer als Turin.
»Das Filmmuseum: Wenn die Mumien schon dreitausend Jahre auf dem Buckel haben, heißt das, dass sie warten können.«
Ich nutze ihre Wahl, um ihr die Innenstadt zu zeigen. Von der Piazza Vittorio Veneto zur Piazza Castello komme ich mir ein wenig vor wie meine Mutter, die ihre gute Stube vorführt.
»Da wären wir. Da ist es.«
Während wir uns nähern, macht die Mole Antonelliana einen imposanten Eindruck. Die Plakate des Filmmuseums lassen das Gitter, das sich um das Gebäude zieht, lebendiger erscheinen und versprechen, dies auch im Inneren zu tun.
»Es gibt einen Aufzug, der einen bis nach ganz oben in die Kuppel bringt. Nach dem Rundgang im Museum können wir hochfahren, wenn du magst.«
Anna hebt die Augen zur beunruhigend hohen Spitze der Mole.
»Weißt du was? Wir fangen oben an.«
Ich war Nummer siebzehn und sie die zwölf. Wir wurden von derselben Kommission geprüft. Eine alte Lehrerin, die wir nie vergessen werden, hatte mich zu Übersetzungen von Seneca, Tacitus und Sallust befragt, sich Notizen über meine Leistungen gemacht.
»Und die Straßen?«, hatte sie plötzlich dazwischengefragt.
»Wie bitte?«
»Die Straßen und die Kommunikationswege im Cavour'schen Programm eines geeinten Italiens. Was können Sie mir darüber sagen?«
Nach der Zulassung begannen die Lehrveranstaltungen: endlose Vorlesungen über zweitrangige Dichter des 16. Jahrhunderts, philologische Wortklaubereien, dazu da, unter den bereits Ausgewählten noch weiter auszusieben, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wir hätten uns gegenseitig umgebracht für eine Handvoll zusätzlicher Punkte, ja, schon für einen einzigen mehr.
Deshalb bedeutete jedes Examen: Ansprüche erheben, sich in eine
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