Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Thematik vertiefen, lange Examensarbeiten in doppelter Ausführung abzuliefern. Sich gegenseitig um Chancen bringen. Sich bescheißen.
Am Tag der schriftlichen Prüfung in Latein ließ ich zwei Busse davonfahren, weil sie voller Schlangen waren. Beim dritten zwang ich mich, einzusteigen. Sie ringelten sich um die Pfosten.
»Fühlst du dich nicht wohl?«
Anna hatte mich inmitten der Menge, die sich an den Türen zusammendrängte, erkannt.
»Anhalten: Hier ist jemandem übel geworden!«
Der Fahrer fuhr sofort rechts ran. Ich taumelte auf den Gehsteig, suchte irgendwo Halt. Anna streckte mir den Arm hin, setzte sich neben mich auf den Boden.
Wir riskierten, die Prüfung zu verpassen. Außer uns war an diesem Tag niemand dran.
Seit diesem Moment ist sie mein guter Geist. Wir studierten gemeinsam, korrigierten uns gegenseitig die Einschreibungsformulare, tauschten Bücher aus. Dann kamen die Kaffeepausen, die Telefonate, die Nacht im Krankenhaus am Bett ihrer Schwester, die Autofahrten, damit ich früher nach Hause kam.
Über den Pädagogikbüchern kamen uns Zweifel, ob das Gymnasium noch dasselbe war, das uns zu Schulzeiten gequält hatte.
Ich habe gesehen, wie sie während der Fahrt nach oben kurz die Augen geschlossen hat. Und tatsächlich drängt sich unweigerlich das Gefühl auf, im leeren Raum zu hängen, da der Marmor der Kuppel unendlich weit weg scheint und die Wände des Aufzugs aus Glas sind.
»Ja«, sagt Anna. »Dauert es noch lange?«
Als wir in luftiger Höhe aussteigen, lassen wir unsere Blicke bewundernd über das unter uns ausgebreitete Turin schweifen. Mithilfe der kartographischen Schilder erkenne ich die Stadtteile wieder, die ich mir in den vergangenen Monaten erlaufen habe: Ich sehe mich mit Margherita hin und her rennen, ihren Lebenslauf bei Sozialgenossenschaften, Heimen, Bekleidungsgeschäften, Tierhandlungen abgeben.
Was lässt sich nun über die Cavour'sche Verkehrsplanung sagen? Dass die Straßen schnurgerade sind. Und dass sie nirgendwohin führen.
»Wenn ihr nichts dagegen habt, lasse ich euch einige Stunden mit Tommaso allein«, hatte Tirone gesagt. »Ich muss ein paar Dinge erledigen.«
Am Tag darauf war er verschwunden, verschollen in den Tiefen der Schule.
Die Italienischlehrerin warf uns nervöse Blicke zu, während wir mit Tommaso vor dem Gerät saßen, das ihm das Schreiben erleichtern sollte.
Tommaso lachte dem Computer ins Gesicht, weigerte sich, uns sein Handgelenk zu geben, und als wir ihn schließlich dazu überredet hatten, konnten uns die Ergebnisse nicht überzeugen.
DER TURM DER TURM DER TURM
»Soll das eine Beschwörung sein?«
Wir druckten Seiten voll mit TURM , 1234, BA . Als es der Lehrerin gelang, ihm einige Sätze zu entlocken, suchte ich in Annas Augen eine Bestätigung meines Verdachts.
»Es ist sie, die schreibt, er macht gar nichts.«
»Bist du sicher?«
Anna wollte es nicht glauben. Ihr gefiel die Vorstellung, dass Tommaso trotz der Krankheit irgendwo da drin war.
Manchmal konnte von Schreiben nicht die Rede sein. Den Vormittag gestaltete er: Rannte durch den Flur, wir ihm hinterher wie gequälte Seelen, zu weit weg, um etwas anderes tun zu können, als ihm zuzurufen, endlich stehen zu bleiben, während er sich mit den Händen aufs Fensterbrett stützte, den Kopf nach vorn streckte, um ein Haar das Gleichgewicht verloren, sich aus dem Fenster gestürzt hätte.
Tommaso faszinierte uns durch seine reine Existenz. Anna nahm die Ausdrucke vom Schreibgerät mit nach Hause, fand darin unglaubliche Assoziationen, geistreiche und ungewöhnliche Sichtweisen.
An den anderen Vormittagen ging ich zur Schule, unterrichtete in der Mittelstufe, korrigierte mittelmäßige Hausarbeiten. Lobte Politos desinteressierten Blick, seine Augen, die nicht umherschweiften, die sauberen Finger, mit denen er den Stift umklammerte, sich an einer Übersetzung versuchte, scheiterte.
»Benutzt du das Schreibgerät nie?«
»Nein, das brauche ich nicht. Andrea schreibt mit dem Stift wie alle anderen. Er lädt sich aus dem Internet Fotos herunter, druckt sie aus … Was ist?«
Anna lächelt.
»Ganz die stolze Mama!«
»Lass das.«
Ich bin nicht seine Mutter. Da würde ich verrückt werden.
»Wer weiß, wie es ist, Andrea zu sein«, sagt sie, lehnt sich ans Geländer. »Schrecklich, stelle ich mir vor.«
»Ich denke nicht, dass er sich dessen bewusst ist.«
»Nein?«
»Ich glaube nicht. Es ist eben so und fertig.«
Tommaso rennt vor meinen Augen
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