Der Leichenkeller
Tradition, dass sie selbst eine Beerdigung organisierte, falls das Opfer keine Angehörigen mehr hatte. Queenie würde nicht weit von dem noch immer nicht identifizierten Baby beerdigt werden, das die Detectives Baby Hope getauft hatten, sowie dem obdachlosen Gitarrespieler namens Elvis, der in der U-Bahn-Station an der 125. Straße wegen der paar Dollar, die er sich erbettelt hatte’, umgebracht worden war.
»Was ist das auf dem Boden?«, fragte ich.
»Die Scheißkerle haben auf der Suche nach Bargeld sogar all ihre Schuh- und Hutschachteln ausgekippt. Das da ist der traurige Rest.«
Der dunkle Holzboden des Wandschranks war übersät mit Silbermünzen. »Das war wahrscheinlich ihr eiserner Vorrat – das Trinkgeld für die Kids, wenn sie für sie einkaufen gingen.«
Ich kniete mich nieder und ließ die Münzen durch meine Finger gleiten. Sie fielen klirrend zu Boden. Mike und ich kannten Opfer, die für weit weniger Geld umgebracht worden waren als auf dem Boden von Queenies Schrank lag.
»Versprich mir, dass jemand ein gründliches Inventar erstellt«, sagte ich. »Für dich sieht es vielleicht nicht nach Wertvollem aus, aber die ganzen Erinnerungsstücke hier sollten nicht einfach so weggeworfen werden.«
»Schau dir bitte mal diese Fotos an«, sagte er und deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf die Schlafzimmerwände. »Hast du so was schon mal gesehen? Es ist, als ob sie sich selbst eine Gedenkstätte errichtet hätte. Ich meine, sie war verdammt gut gebaut, aber könnten diese Fotos – könnte ihre Vergangenheit – etwas mit dem Mord zu tun haben?«
Anhand der Tatortfotos erkannte ich das Bett wieder, auf dem ihre Leiche gelegen hatte. Nach Ansicht der Detectives war sie dort getötet worden. Zusätzlich zu dem Porträt von Van Derzee über dem Kopfende hingen noch sieben weitere erotische Aufnahmen an der Wand, mit jeweils unterschiedlichem Hintergrund. Keine Bühne, kein Studio, keine tanzende Queenie – sie waren schlicht und einfach pornografisch.
So eine Situation hatte ich in einem Kriminalfall noch nie gehabt. Vor sechzig Jahren mochten die Bilder aufreizend gewirkt haben, doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass heutzutage jemand auf die teilweise gelähmte, über achtzigjährige Frau genauso reagierte hätte.
»Frag mich was Leichteres!«, sagte ich. »Aber auszuschließen ist es nicht.«
Gegenüber dem Fußende des Bettes stand eine Frisierkommode. Rechts vom Spiegel war ein weiteres Foto der jungen Ransome, als tanzende Scheherazade in Pluderhosen mit winzigen Glöckchen in den hoch erhobenen Händen. Links vom Spiegel standen sich auf einem weiteren Foto zwei Frauen im Profil gegenüber, beide in bodenlangen, trägerlosen Satinkleidern.
»Das musst du dir ansehen! Queenie Nase an Nase mit Josephine Baker.« Ich erkannte die amerikanische Tänzerin, die den Großteil ihres Lebens in Paris verbracht hatte und als eine der sinnlichsten Künstlerinnen aller Zeiten galt.
»Den Talentschuppen verschieben wir auf später, Coop. Merkst du was?«
»Was?«
»Die Schwingungen.« Mike setzte sich auf einen Hocker neben der Kommode und stützte sich auf Queenies Metallgehhilfe. »Manchmal, wenn ich einfach nur so dasitze, inmitten der Welt des Opfers, umgeben von ihrem Hab und Gut, bekomme ich ein Gespür dafür, wer eingedrungen ist, um ihr wehzutun, oder wonach derjenige gesucht hat.«
»Was, wenn es reine Willkür war?«, fragte ich.
»Das spielt keine Rolle. Manchmal sagen mir der Ort und seine Menschen etwas«, sagte er leise. »Das hier fällt total aus dem Rahmen. Ich möchte, dass es sich anfühlt, als wäre sie meine eigene Großmutter gewesen, aber so, wie es hier aussieht …«
»Dich stören die Fotos?«
»Dich nicht?«, fragte er zurück.
»Eigentlich sind sie recht schön«, sagte ich und zerzauste ihm die Haare. »Das kommt von deiner Klosterschulerziehung, Mikey.«
Eine Zeit lang waren nur die kratzigen Töne von Ellingtons Jazzsound aus dem Nebenzimmer zu hören. Dann klingelte mein Handy.
»Hallo?«
»Alex, hier ist Mercer.«
»Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Er ist noch nicht wieder aufgetaucht. Aber es gibt einen Hoffnungsschimmer. Ich bin gerade erst im Büro eingetrudelt. Gestern wurde es spät, bis wir alle vernommen hatten, die den Jungen vor seinem Verschwinden gesehen hatten. Hast du von Paige gehört?«
»Nein. Aber sie ist noch im Zeugenstand. Du weißt, dass sie Anweisung hat, nicht mit mir zu sprechen.«
»Sie hat mir letzte Nacht eine
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