Der Letzte Askanier
Panik, noch viel mehr aber die Unfähigkeit, nach Elisabeth zu rufen und sie um Hilfe zu bitten. Er brachte nur ein unverständliches Lallen hervor, das ein wenig wie das Grollen eines Hundes klang. Nur leicht zitternd, aber in zunehmender Unruhe lief er hin und her und wollte aus dem engen Raum hinaus, konnte aber keinen Ausgang finden, denn er begriff nicht mehr, daß er nur die Tür öffnen mußte. Mit beiden Händen tastete er die Wände ab. Da war aber nichts. Der Sultan hatte ihn wieder eingekerkert. Aber Bruder Marquardus kam schon von der Grabeskirche herüber, ihm zu helfen. Was schrie der da draußen? Siehe, selig ist der Mensch, den Gott straft; drum weiche nicht zurück vor der Züchtigung durch den Allmächtigen. Da brach er zusammen und blieb wimmernd liegen.
So fand ihn wenig später Elisabeth; sie richtete ihn auf und lehnte ihn gegen die Wand. »Was ist passiert, Lieber?«
Als Rehbock sie sah, schrie er auf, denn die Jungfrau Maria war gekommen, ihn zu erlösen von all seinen Qualen. Und er hörte sie fortfahren mit den Sätzen aus dem Buche Hiob: Denn er verletzt und verbindet; er zerschlägt, und seine Hand heilt. Aus sechs Trübsälen wird er dich erretten, und in der siebenten wird dich kein Übel rühren.
»Kannst du sprechen?« fragte ihn Elisabeth.
Ja, plötzlich konnte er es wieder, und es brach aus ihm heraus wie Eiter aus einer lange schwärenden Wunde: »Ich bin ein Betrüger, ich bin unecht, ich bin der falsche Waldemar, ich bin kein Sohn des Hauses Askanien, sondern ein einfacher Müller, ein Müller aus Niemegk und Bärwalde, einer, der Rehbock heißt, Jakob Rehbock … Rehbock, Rehbock, Rehbock, Rehbock …!« Er wiederholte es ein dutzendmal.
In der Tür erschien der Graf Albrecht von Anhalt, um zu sehen, was mit seinem Vetter geschehen war.
»Es steht ganz schlimm«, gab ihm Elisabeth Bescheid. »Jetzt phantasiert er schon. In seinem Wahn bildet er sich ein, ein Müller zu sein.«
»Das kommt daher, daß die Leute ihm ›Mehlsack‹ nachrufen«, stellte der Anhaltiner fest. »Sein weißes Haar sieht aus, als wär's von Mehl bestäubt, das wird es sein.«
Rehbock sprang auf und breitete die Arme aus. »Das Mühlrad der Zeit ist umgegangen. Das Leben hat mich zermahlen wie die Mühlräder das Korn. Zu Mehl bin ich geworden, zu weißer Asche. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.«
»Komm, trink!« Elisabeth hielt ihm den Becher hin, der einen beruhigenden Kräutersud enthielt.
»Ich bin ein Betrüger, ich bin unecht, ich bin der falsche Waldemar, ich bin kein Sohn des Hauses Askanien, sondern ein einfacher Müller, ein Müller aus Niemegk und Bärwalde, einer, der Rehbock heißt, Jakob Rehbock … Rehbock, Rehbock, Rehbock, Rehbock …!«
Elisabeth nahm seinen Kopf zwischen die Hände und küßte sein Gesicht. »Du bist Waldemar, Markgraf Waldemar. Mein Kind, verwirf die Zucht des Herrn nicht und sei nicht ungeduldig über seine Strafe. Du wirst sehen: morgen ist alles wieder gut. Komm, trink!«
KAPITEL 25
1350 – Prag, Spremberg, Bautzen, Werbellin und Nürnberg
M einhard von Attenweiler ging mit offenen Augen durch Prag und spürte auf Schritt und Tritt Karls Bestreben, hier an der Moldau eine Metropole zu errichten, um die sich fortan Europa drehen sollte wie ein Rad um seine Achse. Und er war sich sicher, daß Karls Kraft ausreichen würde, eines Tages von der Prager Burg aus als Kaiser zu regieren. Auf der Kleinseite wurde eifrig gebaut, und an die Stelle der vor acht Jahren vom Hochwasser zerstörten Judithbrücke sollte eine neue aus festen Steinen treten. Die Burg auf dem Hradschin wurde erweitert und die Neustadt angelegt. Die Stadtmauer, die das neue Areal umschloß, war fünf Meilen lang und schon nahezu fertiggestellt, obwohl Karl erst im März 1348 mit dem Bau begonnen hatte. In einem feierlichen Akt hatte er im Beisein vieler deutscher und böhmischer Fürsten eigenhändig den Grundstein gelegt. Prag war damit, was die ummauerte Fläche betraf, zur größten Stadt Deutschlands geworden, vor Köln, und stand in Europa nur noch hinter Konstantinopel und Rom. Vor allem aber hatte Prag seit zwei Jahren eine Universität, die erste im nordöstlichen Europa, und gelehrt wurden Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie. Karl hatte auch dafür gesorgt, daß der Papst die Stadt zum Erzbistum erhob.
Meinhard kam vom Altstädter Rathaus, das die Bürger gerade um einen Turm und eine Erkerkapelle erweitert hatten, und
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