Der letzte Aufguss
Haus. Nicht alle Gebäude der Universität besaÃen die edle
Patina der Historie, manche dienten einfach nur der Unterbringung von Räumen.
Und dieses Betonungetüm sah aus wie Hunderte von Räumen, die möglichst
kosteneffizient aufeinandergestapelt waren. Weil das, was in seinem Inneren
lagerte, immer weiter wuchs und Platz verschlang, trotz aller digitalen
Versuche, den Umâfang einzudämmen. Die Computertechnik machte sogar alles noch
schlimmer. Irgendwann würde das Gebäude wohl ganz England bedecken.
Es war das Zentralarchiv der Universität.
Wie Bietigheim an der Information mitgeteilt wurde, gab es
tatsächlich eine eigene Abteilung für den wissenschaftlichen Nachlass von
verstorbenen Professoren.
Im untersten Kellergeschoss.
Britischer Humor. Man musste ihn einfach lieben.
Bietigheim hatte sich genau überlegt, wie er am besten Zugang zum
Nachlass bekommen konnte, obwohl er weggeschlossen war. Sein Plan: über das
Thema Sport. Komplimente mochten der Weg zum Herzen einer Frau sein, Sport war
der Weg zum Herzen eines Mannes. Bietigheim verfolgte in jedem Frühjahr das
Boat Race, die traditionelle Ruderregatta zwischen Cambridge und Oxford â wobei
Cambridge häufiger gewonnen hatte und auch noch den Rekord für die schnellste
je geruderte Zeit hielt. Ein Kinderspiel würde es für einen Mann mit seinem
rhetorischen Talent und seinem Einfühlungsvermögen sein, den Archivar mit einem
Gespräch zu seinem besten Freund zu machen. Abgesehen von Benno natürlich, der
überraschend brav neben ihm hertrabte.
Der Aufzug hielt auf der untersten Ebene. Bietigheim musste nur
durch den mit flackerndem Neonlicht notdürftig beleuchteten Gang und um eine
Ecke biegen, schon würde er herausfinden, worüber seine beiden Vorgänger
gearbeitet hatten und vielleicht auch, warum der Master wollte, dass er nichts
davon erfuhr.
Mit einem sportiven Lächeln bog Bietigheim um die Ecke â um
festzustellen, dass der zuständige Archivar eine Frau war. Mit der erotischen
Ausstrahlung von Angela Merkel und der Herzlichkeit von Margaret Thatcher. Oder
umgekehrt.
Bietigheim war unsicher, ob Komplimente bei dieser Dame
funktionierten. Vor allem aber war er unsicher, über was er überhaupt
Komplimente machen konnte. Es waren nur wenige Ansatzpunkte geboten.
»Einen wunderschönen guten Tag wünsche ich.« Er hielt seinen
Universitätsausweis hoch. »Darf ich sagen, was für wundervolle ⦠ähm ⦠tja ⦠also â¦Â«
Puh, das war noch schwerer als gedacht. Nichts, aber auch gar nichts an dieser
Frau war wundervoll. Nur ein Detail war bemerkenswert. »Was für buschige
Augenbrauen Sie haben? Selten etwas so Famoses gesehen. Beeindrucken mich sehr!«
»Die Nachlässe der Professoren Jonathan Cleesewood und Timothy
Martin James Charles Eugene, des 17. Earl von Shropsborough, sind für zehn
Jahre nicht der Ãffentlichkeit zugänglich zu machen.« Sie sprach mit der
monotonen, nervenzerfetzenden Stimmlage einer rostigen Säge.
»Ich verbitte mir diese Frechheit. Ich bin nicht die Ãffentlichkeit,
ich bin Professor! Und woher wissen Sie überhaupt �«
Sie deutete auf ihr Telefon.
»Interessieren Sie sich zufällig für Rudern?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich brauche die Unterlagen dringend, gleich fängt das Seminar zur
Tee-Zucker-Relation an, Sie wissen schon.« Er blickte in ein völlig
verständnisloses Gesicht. »Also, ganz einfach ausgedrückt, damit Sie es auch
verstehen können, welchen Zucker und wie viel davon für welchen Tee? Natürlich
sowohl historisch als auch kulturell und sensorisch betrachtet.«
»Die Nachlässe der Professoren Jonathan Cleesewood und Timothy
Martin James Charles Eugene, des 17. Earl von Shropsborough, sind für zehn
Jahre nicht der Ãffentlichkeit zugänglich zu machen.«
»Das sagten Sie bereits, ich bin nicht schwerhörig.«
Plötzlich wusste Bietigheim, woran ihn die Frau erinnerte. An eine
Kröte. Er näherte sich möglichst unauffällig, um zu sehen, welcher Gattung sie
angehörte â wobei ihm ein Abzeichen auf ihrem Revers auffiel. Es war das
Wappenschild des St Johnʼs College mit den sechs Lilien und ebenso vielen
Löwen. Das Wappen seines eigenen Colleges! Wie eine Glühbirne leuchtete eine
Idee in Bietigheims Kopf auf.
»Ich akzeptiere
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