Der letzte Aufguss

zum Vorderrad und wiederholte den kleinen
Test. »Die Bell Ringers von Great St Maryʼs. Ihr offizieller Name lautet ›The
Society of Cambridge Youths‹, gegründet wurden sie 1724, und damit sind sie
die zweitälteste Ringing Society der Welt, die kontinuierlich ihren Dienst
verrichtet.«
    Der Professor musterte den Fahrradhändler genauer. Seine kräftigen
Arme, seine exakte Art, die Halskette mit Kreuz. »Sie waren früher selber ein
Bell Ringer, nicht wahr?«
    Â»Die zwölfte und schwerste Glocke war meine. Sie wird Tenor genannt
und stammt aus dem Jahr 1770.« Colin steckte seinen Schraubenschlüssel weg. »So,
fertig.« Er blickte auf die große, schlichte Werkstattuhr. »Und jetzt bringe
ich Sie zu den Ringers, Professor. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben. Gerade
jetzt übt die Society nämlich. Das hat sich seit Ewigkeiten nicht geändert. So
ist Cambridge.«
    Der Professor hatte eigentlich keine Zeit, doch das hinderte ihn
nicht daran, sie sich zu nehmen.
    Die meisten Touristen betraten Great St Maryʼs nur, um den Turm zu
besteigen – von dort aus hatte man nämlich einen wunderbaren Rundumblick über
die Stadt. Doch auf dem Weg zur Aussichtsplattform konnte man in einem kleinen
Raum auf halber Höhe die Bell Ringers bewundern, die dort ihrer Tätigkeit
nachgingen. Den Boden bedeckte ein hellblauer Teppich, die Wände waren aus
dunklem Holz, in der Mitte stand ein Holztischchen, beladen mit Büchern und
Noten, das von vier Sitzbänken umgeben war. Großformatige hölzerne Urkunden an
den Wänden erinnerten an wichtige Glockenläutungen und die beteiligten Bell
Ringers. Zum Beispiel die Grandsire Quarters mit 5039 Wechseln, wofür sie drei
Stunden und siebenundzwanzig Minuten gebraucht hatten. Aus der hölzernen Decke
hingen die Seile der zwölf Glocken.
    An vieren der Seile hingen Männer.
    Ein fünfter stand daneben und brüllte sie an.
    Colin winkte ihm zu. Dann fielen sie sich in die Arme. Der Mann sah
aus, als sei er aus sechs Kartoffeln zusammengesetzt: je zwei für Beine und
Arme, eine für den Rumpf und eine für den Kopf. Sowie eine klitzekleine, aber
extrem unförmige Kartoffel für die Nase. Er war auf eine landwirtschaftliche Weise
knollig. Eine halbe Ewigkeit sprach Colin mit ihm über die guten, alten Zeiten.
Bietigheim blickte währenddessen mehr als einmal auf seine goldene Taschenuhr,
ja, er räusperte sich sogar ärgerlich. Endlich stellte Colin ihm den Mann als
Richard A. Unsworth vor, den Belfry Maintenance Officer. Der Professor war
mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem er keine Lust hatte, noch länger
auf die benötigte Information zu warten.
    Â»Ich muss dringend, und ich betone dringend, mit den Nightclimbern
reden, die kennen Sie doch.«
    Â»Nein, kennen wir nicht«, sagte Unsworth, ohne mit der Wimper zu
zucken.
    Â»Ach, hören Sie doch auf mit dem Schmuh! Hier geht es um eine
Mordermittlung. Also stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind.«
    Â»Darf er so mit mir reden?«, fragte Unsworth und wandte sich
schmunzelnd an Colin, dem einer der Glöcknerschüler um der guten alten Zeiten
willen das Seil der zwölften Glocke überlassen hatte.
    Der Professor antwortete laut, um die Glockenschläge zu übertönen: »Wie
würden Sie mit einem bockigen Glöckner reden, wenn Sie das nächste Opfer eines
Serienkillers sein könnten?«
    Colin zog die Tenor. »Gerechtfertigte Frage, finde ich.« Der Schlag
der Glocke war satt und klar. »Außerdem habe ich ihm bereits verraten, dass die
Society mit den Nightclimbern in Verbindung steht.«
    Unsworth nahm einen Stuhl und stellte ihn vor sich. »Der ist für
Sie, Professor.« Dann holte er sich einen eigenen und stellte ihn gegenüber
hin. Bevor er Platz nahm, wandte er sich an die Glöcknerschüler: »Und ihr macht
weiter! Ich erwarte Perfektion. Das ist schließlich kein Rock ʼnʼ Roll, sondern
Glöcknerei!«
    Dann gehörte seine Aufmerksamkeit Bietigheim.
    Â»So, dann lassen Sie uns reden. Es stimmt, was Colin Ihnen
anvertraut hat. Die Verbindung zwischen uns und den Nightclimbern ist sehr alt.
Wobei Verbindung zu viel gesagt ist. Es ist ein Gentlemenʼs Agreement, seit den
frühesten Tagen dieser nächtlichen Aktivisten. 1895 begann der berühmte
Alpinist Geoffrey Winthrop Young damit, die Dächer der Universität