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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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zu
erklettern. Er publizierte sogar einen Führer mit den erkletterten Strecken.
Andere sind ihm nachgefolgt, und heute ist es für einigermaßen trainierte junge
Menschen kein größeres Problem mehr, die berühmten Dächer vom Kingʼs College
oder von der St Johnʼs College Chapel zu besteigen. Insofern gibt es nicht die Nightclimber, denn jeder kann dieser … Tätigkeit
nachgehen. Doch es gibt stets einen engeren Zirkel von Studenten, die ihrer
Leidenschaft gemeinsam und organisiert frönen. Früher erkletterten sie auch
Great St Maryʼs – doch wir haben sie erwischt. Dann einigte man sich. Sie
klettern nicht mehr auf unsere ehrwürdige Kathedrale, und wir verraten nie,
wenn wir sie von unserer exponierten Position aus beim Klettern beobachten. Und
so ist es geblieben. Hat der Zirkel einen neuen Vorsitzenden, wird er bei uns
vorstellig. Gemeinsam nehmen wir einen Cream Tea und erneuern den Bund. Das ist
alles. Doch ich werde Ihnen, obwohl Ihr Leben daran hängen könnte, nicht
verraten, wer dieser Vorsitzende ist. Es ist eine Frage des Vertrauens, und ich
werde nicht allen Bell Ringers vor mir Schande bereiten, indem ich unser
Versprechen breche.«
    Bietigheim rückte seinen Stuhl näher. »Ich sage ja niemandem, dass
ich es von Ihnen weiß …«
    Unsworth stand auf. »Das Wort eines Bell Ringers gilt. Immer. Und
nun muss ich mich wieder um die Ausbildung des Nachwuchses kümmern. Ich darf
mich verabschieden.« Er stand auf und zog Bietigheim den Stuhl unter dem
Hintern weg.
    Colin brachte ihn hinaus. Und zwinkerte ihm zum Abschied
verschwörerisch zu. Anscheinend hatte ihm, dachte Bietigheim, das letzte
Glöcklein noch nicht geschlagen.
    Beim Verlassen von Great St Maryʼs sah er Pit beim Servieren in
Auntieʼs Tea House gegenüber. Er trug eine Schürze. Und lächelte. Es war ein
Bild für die Götter.
    Bietigheim schaute nach seiner heutigen Lehrveranstaltung im
Institut vorbei und dann in seinem Büro am St Johnʼs College, wo er seine
Studentensprechstunde abhielt. Für ihn der quälendste Teil seiner Arbeit. Warum
konnte es keine Universitäten ohne Studenten geben? Dann wäre die Welt ein
besserer Ort.
    Allerdings musste er zugeben, dass das studentische Rohmaterial in
Cambridge deutlich hochwertiger war als in Hamburg. In der Heimat beschlich ihn
manchmal das Gefühl, Tinnitus im Auge zu haben – denn er sah nur Pfeifen.
    Seine Cambridge-Studenten waren allesamt zwischen siebzehn und
einundzwanzig Jahre alt und hier, um hart zu studieren. Abends wurde hart
gefeiert, aber nicht zu lang, denn am nächsten Morgen begannen die
Lehrveranstaltungen früh. Da sie nur wenig Zeit zum Feiern hatten,
komprimierten sie die Exzesse und die Alkoholzufuhr auf wenige Stunden.
    Bietigheim sah das Resultat bei seiner heutigen Vorlesung wieder an
den Augenringen seiner Studenten. Deshalb gab er ihnen Sonderaufgaben, um sie
vor dem Feiern zu schützen.
    Sie schienen das nicht zu honorieren.
    Danach radelte er in sein Haus in der Pretoria Road zurück, wo Benno
den Vormittag solo im Garten verbracht hatte – überraschenderweise, um Löcher
zu buddeln. Es sah aus wie nach einem Bombenangriff. Und Benno war vollständig
erdbraun.
    Im Wohnzimmer erholte sich Pit bereits von seiner ersten Schicht als
Teemädchen.
    Indem er literweise Bier trank.
    Immerhin hatte er die Schuhe ausgezogen, bevor er die Füße auf den
Esstisch gelegt hatte. Wobei die Socken keinen sonderlich frischen Eindruck
machten.
    Â»Professore, willkommen! Bevor Sie irgendwas Blödes über meine
Sitzhaltung sagen: Ich habe zwei Nachrichten für Sie. Erstens: Die Käuferin des
White Tea, der in Ihrer Küche stand, war eine Ms Pond. Beatrice Pond. Jemals
von ihr gehört?«
    Bietigheim schüttelte den Kopf, während er für Benno ein Schälchen
mit Wasser füllte.
    Â»Mir gehtʼs genauso. Hab sie auch nicht im Telefonbuch oder den
offiziellen Listen der Uni-Mitarbeiter gefunden.«
    Â»Und die zweite Nachricht?« Der Professor setzte Teewasser auf. Er
hatte im Schrank einen Scottish Breakfast Tea gefunden, den der verstorbene
Cleesewood wohl sehr schätzte.
    Â»Ich bin auf dem Rückweg beim Fotoladen auf der Trumpington Street
vorbeigegangen. Da gehen alle von der Uni hin, und ich hab ihnen die Bilder
gezeigt, die Sie bei Ihrer Ankunft gefunden haben.« Pit warf die Abzüge auf

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