Der letzte Aufguss
Gewünschte in
perfekter Schärfe.
Es gab keinen Zweifel. Für andere Menschen mochten alle Asiaten
gleich aussehen, doch Bietigheims Augen waren geschult. Und gerade dieses
Gesicht würde er unter hunderttausenden wiedererkennen. Denn schlieÃlich
gehörte es einer Legende: dem Teemeister MusŠKokushi, ansässig in der alten
japanischen Kaiserstadt KyÅto. Er reiste selten ins Ausland, und wenn, dann kam
dies einem Staatsbesuch gleich. Medien berichteten, Universitäten rissen sich
um seine Besuche, eine Schar von Lakaien umringte ihn stets.
Genau diesen MusÅ Kokushi mit seinem kurz geschorenen, weiÃen Haar,
seinem mondförmigen Gesicht und seiner kleinen, gebeugten Gestalt hatte
Bietigheim auf dem Foto von Beatrice Pond identifiziert. Und zwar ganz allein.
Ohne dass irgendjemand etwas von seiner Anwesenheit in Europa gewusst hätte.
»Prosencephalon«, sagte der Professor.
Er wusste später nicht, was Mrs Pond verstanden hatte. Aber sie
brachte ihm ohne Umschweife einen Teller mit Gebäck.
KAPITEL
4
Afternoon Tea
Es war noch stockdunkel drauÃen, doch Adalbert Bietigheims Laune war
an diesem Morgen sonnig.
»Wirklich keinen Tee? Zur Stärkung?« Er hob die Kanne lockend empor.
Der Duft der Ceylonmischung würzte den Raum und füllte ihn mit köstlicher
Exotik. Wie unglaublich beruhigend guter Tee doch wirkte, wie er einem von
innen den Bauch warm streichelte, wie er einem sagte: Alles ist gut, mach dir
keine Sorgen, du bist in Sicherheit. Kein anderes Getränk der Welt vermochte
dies. â Es hielt Leib und Seele sowie das Empire zusammen.
»Ich kann keinen Tee mehr sehen«, antwortete Pit. »Ich bleib lieber
bei meinem Bier zum Frühstück. Das weckt meine Lebensgeister. AuÃerdem hilftʼs
mir, den ganzen Kram hier runterzukriegen.«
Damit meinte er das traditionelle englische Frühstück, welches
Bietigheim aufgefahren hatte. Pit fand das Verhältnis von Fleisch zu
Nichtfleisch unausgewogen. Das fand er eigentlich immer, wenn ein Gericht nicht
ausschlieÃlich aus Fleisch bestand.
Vor ihm standen Rührei, Würstchen, Bacon, geschmorte Tomaten sowie
Pilze, Baked Beans, dazu fast schwarze Toastscheiben und Porridge, der heiÃer
war als Magma. Das alles gab es, weil eine lange Reise bevorstand. Ãber sechs
Stunden Fahrt waren es bis zum Tregothnan Estate in Cornwall, dem
südwestlichsten Zipfel GroÃbritanniens.
Benno von Saber würde sie begleiten, schlieÃlich liebte er
Autofahrten, vor allem wenn man ihm ab und an gestattete, seinen Kopf
herauszustrecken und die Zunge im Wind flattern zu lassen. Heute allerdings sah
es schlecht damit aus, denn ein geradezu ekliger Regen ging auf das Land
nieder. Die Tropfen erinnerten an den Sabber eines zahnlosen Greises. Man
wollte nicht vor die Tür gehen. Doch nachdem der Professor den Vorsitzenden der
Port Wine Society angerufen und ihn darum gebeten hatte, mit seinen
Mitstudenten die Stadt nach Teemeister MusŠKokushi zu durchstöbern, machten
sie sich auf den Weg.
Der Professor beschloss, die lange Fahrt zu nutzen, um Pit in der
Teekunde zu schulen. Dessen Einwand, nahezu alle Briten würden sowieso nur
billigen Schwarztee trinken, lieà er nicht gelten. SchlieÃlich fuhren sie
gerade zum Tregothnan Estate, wo die Nachfahren des berühmten Earl Grey
ebensolchen Tee produzierten â welcher im Ruf stand, der Beste seiner Art auf
der ganzen Welt zu sein. Erzeugt wurden auÃerdem Afternoon Tea, grüner Tee
sowie eine Mischung mit dem Namen »Classic Tea«. Allerdings bestand keiner
davon ausschlieÃlich aus englischem Tee, stets war er nur ein Teil der
Gesamtkomposition.
Irgendwann stellte Pit die Musik so laut, dass Bietigheim seine
eigene Stimme nicht mehr hören konnte. Dieser verstand das Zeichen, drehte die
Musik leiser â und referierte fortan über Cornwall.
Auf dem Home Estate der Familie Wenbosca, der das Anwesen seit 1335
gehörte, wuchs an verschiedenen Stellen Tee, die gröÃeren Plantagen fanden sich
allerdings auÃerhalb. Bietigheim hatte sich mit dem Besitzer, Sir Godehard
Wenbosca, im gutseigenen Restaurant Smugglers verabredet. Das Gebäude aus dem
15. Jahrhundert lag wunderschön am River Fal, das Dach war reetgedeckt, und Efeu
schmückte die Hauswände. Ein Ort, wo die Welt noch in Ordnung zu sein schien.
Bietigheim beruhigte es, an solche Plätze zu kommen, wo mitten in einer
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