Der letzte Aufguss
sich
ständig verändernden Welt etwas Bestand hatte, ohne zu veralten, stattdessen
mit der Zeit an Grandezza gewann.
Bietigheim nannte einer Kellnerin seinen Namen, woraufhin er und Pit
zu einem Tisch am Fenster geleitet wurden. Die Aussicht auf den Fluss war
bezaubernd. Ein Bild der Eigentümerfamilie hing neben dem Eingang, der aktuelle
Sir Wenbosca und seine Frau, beide in den Fünfzigern, saÃen mitten in der
Teeplantage auf zwei Stühlen, drumherum waren zwei Mädchen und ein Junge in
ihrer besten Sonntagskleidung drapiert.
Die Bedienung erschien und fragte, was sie trinken wollten. Der
Professor bestellte einmal Cream Tea. Dahinter verbarg sich kein Sahnetee,
sondern ein Schwarztee, zu dem es frisch gebackene Scones gab, Marmelade und
Clotted Cream. AuÃerdem orderte er einmal Afternoon Tea, zu dem Gurken- sowie
Räucherlachs-und-Cream-Cheese-Sandwiches gereicht wurden.
Pit passte die Wahl überhaupt nicht. »Ich hab richtig Hunger. Und
ich trinke keinen Tee.â«
»Sie trinken hier verdammt noch mal Tee und haben Freude daran.
Benehmen Sie sich! Glauben Sie, sonst gibt uns jemand Auskunft? Höflichkeit ist
Trumpf, und dazu gehört es, die Sitten und Gebräuche zu achten.«
»Es geht auch anders als höflich. Diese ganze Höflichkeit hier geht
mir langsam tierisch auf den Sack. AuÃerdem brauche ich ein Bier, aber das darf
ich mir ja nicht bestellen.«
»So ist es.«
»Dann aber wenigstens Kaffee und keinen Tee, ich benötige nämlich
Koffein und nicht dieses blöde Tein.«
»Den Stoff Tein gibt es gar nicht, auch in Tee ist Koffein
enthalten. Sind Sie jetzt beruhigt?«
Pit war nicht beruhigt. Er war ernsthaft irritiert. »Ich dachte
immer, kurz gebrühter Tee putscht auf, lange gezogener beruhigt. Wie kann das
denn bei Koffein sein?«
Die Bedienung kam und stellte alles auf den Tisch. Bietigheim
blickte auf die Uhr. Es war noch genug Zeit für eine kurze Chemielektion, bevor
der Hausherr eintreffen würde. »Sperren Sie Ihre Lauscher auf, ich sage es nur
einmal. Das Koffein aus den Teeblättern geht schon nach kurzer Zeit in das
Getränk über. Andere Stoffe brauchen länger â genauer gesagt zwei bis drei
Minuten Ziehzeit. Zum Beispiel das Theanin, welches eine beruhigende Wirkung
hat. Die Polyphenole, die ebenfalls etwas länger brauchen, um sich zu lösen,
verändern das Koffein so, dass es nicht mehr wirkt. Deshalb haben wir
schlieÃlich einen beruhigenden Tee.«
Zu Pits Glück konnte der Professor nicht noch weiter ausholen, denn
plötzlich stand jemand neben ihrem Tisch. Es war die Frau vom Foto. Sie trug
englischen Landhaus-Chic, der zeigen sollte, dass sie sich theoretisch die
Hände schmutzig machen konnte â dies jedoch praktisch niemals tat.
»Herr Professor!« Sie reichte ihm die Hand. »Welch eine Freude, dass
Sie uns so schnell nach Ihrem Amtsantritt besuchen. Mein Mann lässt sich
entschuldigen, er hat heute leider einen wichtigen Termin in London.« Sie
blickte an Pit herab. »Mir war nicht bewusst, dass man Ihnen einen Bodyguard
zur Seite gestellt hat. Aber das ist sicher eine sinnvolle Entscheidung.«
Sie bestellte sich ein Bier.
Pit stöhnte laut auf.
Etikette, dachte der Professor, spielte für diesen Burschen wahrlich
keine Rolle â sondern klebte aus seiner Sicht ausschlieÃlich auf Bierflaschen.
»Ich will nicht zu viel Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen«,
begann der Professor.
»Es ist eine Freude, Sie hier zu haben«, entgegnete Dame Julia
Wenbosca. »Wir haben alle Zeit der Welt.«
Demonstrativ trank Bietigheim etwas von seinem Tee und spreizte
dabei den kleinen Finger. »Herausragend, Ihr Earl Grey.«
»Danke sehr, wie nett von Ihnen, das zu sagen.«
Irgendetwas stimmte nicht mit Dame Wenbosca. Vielleicht war ihr
Lächeln ein bisschen zu perfekt. Es wirkte wie eine ebenso schöne wie
undurchdringliche Mauer.
»Meine Vorgänger haben bei Ihnen ein Projekt zum Grüntee
durchgeführt?«
»Ja, eine Pflanzung. Ziel war es, gemeinsam den ersten Matcha-Tee
Englands zu erzeugen. Was extrem aufwendig ist. So müssen die Teesträucher vier
Wochen vor der Ernte beschattet werden, nur dadurch erhält man ein kräftig
dunkelgrünes Blatt. Auch was die Produktionsschritte nach der Ernte betrifft,
hatte Jonathan Cleesewood ganz genaue Vorstellungen. Er war ein Perfektionist.
Die Teeblätter
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