Der letzte Aufguss
sie ruhig mit zu deinem Professor. Vielleicht kann er was damit anfangen.
Die Polizei hat sich nicht dafür interessiert. Sie meinten, es sei wenig
überraschend, in einem Teeladen Tee auf dem Boden zu finden. Das ist aber kein
normaler Tee.«
Erst jetzt kam Pit dazu, die Frage zu stellen, die ihm auf den
Lippen brannte. »Wieso ist der Laden eigentlich nicht geöffnet?«
Diana zog einen Stuhl heran und setzte sich, stand dann wieder auf
und holte Pit auch einen. Erst als beide saÃen, antwortete sie, ihre Hände
umklammerten dabei die Armlehnen, als bräuchte sie Halt.
»Mein Vater ist verschwunden. Ich könnte sagen, das ist nicht seine
Art, aber es wär gelogen. Er verschwindet manchmal für einige Tage, vor zwei
Jahren sogar für Wochen. Aber er sagt mir vorher immer Bescheid. Diesmal:
nichts. Einfach weg. Keine Mitteilung, wann er wiederkommt, kein Hinweis auf
wichtige Bestellungen oder eintreffende Lieferungen.«
»Klingt nach Flucht.«
»Aber warum? Vor wem? Es könnte auch Entführung sein. Doch wer
sollte ihn entführen? Wenn man Geld erpressen will, ist er der Falsche. Wir
sind zwar nicht arm, aber reich auch nicht. AuÃerdem hätte sich dann sicher
längst jemand bei mir wegen des Lösegelds gemeldet.«
»Was meint deine Mutter dazu?«
»Sie lebt im Norden, die beiden sind schon seit sechzehn Jahren
getrennt.«
»Hast du seine besten Freunde gefragt?«
»Die Freunde siehst du hier.« Diana zeigte auf sich. »Er hat für den
Tee und seine Kunden gelebt. Viele kamen aus London, und einige sogar vom
Festland.« Sie atmete noch mal tief durch, ihre Stimme begann zu zittern. »Ich
habe Angst, dass er ermordet wurde. Und dass der Anruf kommt, sie hätten ihn
gefunden.«
Pit stand auf und nahm sie in den Arm. Ungelenk, vielleicht etwas zu
brachial, aber besser konnte er es nicht. Er tätschelte ihren Kopf wie den
eines braven Hundes, aber Diana schien es trotzdem gutzutun.
Auf einmal war zu hören, wie die Ladentür geöffnet wurde.
Wenig später traf Beatrice Pond ein.
Pit sah sie zuerst. »Wer? Wie? Beatrice Pond?«
»Sie ist unsere Putzfrau«, erklärte Diana. »Hatte ich das nicht
gesagt? Du hattest doch nach ihr gefragt wegen des weiÃen Tees. Sie ist die
gute Seele hier. Ich wüsste nicht, was ich ohne sie anfangen sollte.«
Beatrice Pond lächelte vergnügt.
Doch Pit war irritiert. Warum sagte Mrs Pond nichts dazu, dass kein
Licht im Geschäft brannte? Und dass Diana verheulte Augen hatte?
KAPITEL
7
Masala Chai
Professor Bietigheim saà nach seiner Vorlesung im Büro im Institut
für Kulinaristik und tat, als sei alles in Ordnung. Er stürzte sich in
Routinearbeit, überarbeitete Handouts, sortierte die eingehende Korrespondenz
und sah Aufsätze seiner Studenten durch. Aufgaben, die er wegen der Mordermittlungen
vor sich hergeschoben hatte.
Vor ihm stand eine dampfende Tasse Masala Chai, die immer wieder
aufgefüllt wurde. Seit Asha Ghalib wusste, dass er nie etwas Schlechtes über
seine beiden Vorgänger gesagt hatte, behandelte sie ihn mit ausgesuchter Höflichkeit â und half sogar bei den Ermittlungen. Bietigheim hatte sie gefragt, ob der
Earl, wie im Abschiedsbrief stand, Michael tatsächlich beschuldigt hatte, Geld
aus der Institutskasse entwendet zu haben, und dies melden wollte. Woraufhin
sie entschieden den Kopf geschüttelt und ihm versichert hatte, dass der Earl
und Michael stets sehr gut miteinander ausgekommen waren â im Gegensatz zu
Jonathan Cleesewood und Michael, deren Verhältnis stets distanziert gewesen
sei.
Noch eine Lüge also, die Michael in seinen letzten Zeilen versteckt
hatte.
Bietigheim senkte die Nase Richtung Chai, der verlockend duftete und
Erinnerungen an das Weihnachtsfest aufkommen lieÃ, denn Aromen von Kardamom,
Zimt und Nelken entströmten der Tasse, deren Inhalt so hellbraun und schlammig
wie das Wasser des Ganges aussah. Bietigheim schätzte solch herrlich süÃen
Chai-Tee sehr. Erst am Morgen hatte er den Studenten erklärt, dass »Chai«
nichts anderes als Tee und »Masala« auf Deutsch Gewürze bedeutete â und davon
gehörten viele in die heiÃe Flüssigkeit. Die Basis eines Chai Masala war
Schwarztee, dazu kamen Zucker oder Honig, Milch und eben Gewürze â gern auch
Ingwer, Pfeffer, Muskat oder Lorbeerblätter. Jede indische Familie hütete ihr
eigenes
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