Der letzte Aufstand
Lösung, dachte er.
Hinter dem Hauptgebäude gab es eine Rampe. Das Taxi fuhr die zehn Meter mit leichter Steigung hoch und hielt. Lea wartete in der Empfangszone auf der Rampe. Lea war eine Frau, die erst auf den zweiten Blick hübsch war. Sie war 28 Jahre alt, hatte grüne Augen und blondes Haar. Irgendetwas an ihr machte, dass man sich auf der Strasse kaum nach ihr umgedreht hätte. Sie war unauffällig und unaufdringlich. Doch auf den zweiten Blick wurde sie zu einem regelrechten Fotomodell. Ihre Locken, die ihr schulterlang immer wieder ins Gesicht fielen, gaben ihr etwas frech-Mädchenhaftes.
Lea war ursprünglich Sozialarbeiterin gewesen, hatte ihren Job mit 26 jedoch aufgegeben, weil sie eigentlich Kamel-Züchterin werden wollte. Sie hatte als Teenager ein Erlebnis mit einem Kamel gehabt, das sie nie wirklich ad acta legen konnte.
Während eines Sommerferienaufenthalts in Marokko hatte sie mit ihrem Vater einen Kamelausflug in die Wüste gemacht. Sie waren mit einer Gruppe von zehn Touristen und einem Beduinen unterwegs gewesen, als ihr Vater plötzlich ohne Vorwarnung vom Kamel fiel und bewusstlos liegen geblieben war. Die Mobiltelefone der anderen Touristen hatten allesamt keinen Empfang, so dass der Beduine die Gruppe alleine zurück liess und ins nächste Dorf ritt, welches etwa eine Stunde weit weg war, um Hilfe zu holen. Der Puls ihres Vaters wurde indessen immer schwächer und ohne irgendeine Person, die medizinische Kenntnisse hatte, wusste niemand was zu tun war. Lea weinte und war verzweifelt. In dem Moment merkte sie, dass das Kamel ihres Vaters sie intensiv anstarrte. Dann hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.
“Du musst ihn auf den Bauch legen und seinen Rücken mit meiner Milch einreiben.”, sagte die Stimme.
Lea dachte sie würde wahnsinnig. Doch die Stimme hatte etwas Beruhigendes und das Kamel starrte sie weiterhin an, als spreche es mit ihr. In dem Moment realisierte Lea, dass sie nichts als ihre Glaubwürdigkeit als junge Frau zu verlieren hatte. Sie legte ihren Vater auf den Bauch, molk das Kamel, so gut das ohne Erfahrung ging, und rieb den Rücken des Vaters mit der Milch ein. Zwei Minuten später war er wieder bei sich und schlürfte das Wasser aus ihrer Reiseflasche.
Seit diesem Moment wusste Lea, dass ihr Leben und das Leben der Kamele miteinander verflochten waren. Doch dann waren die Terroranschläge immer heftiger geworden und die ATO trat in ihr Leben. Die Kamele müssen warten, sagte sie den anderen im Team immer wieder, wenn sie die Geschichte erzählte, aber für sie war es klar, dass sie tief im Herzen eine Kamel-Züchterin war und die Arbeit mit den Kamelen auf sie wartete.
Lea lächelte, als Guillaume Jean die Wagentür öffnete, damit er aussteigen konnte. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin. Genau in dem Moment bäumte sich Jean noch einmal auf. Er stiess Guillaume gegen die Wand hinter Lea und rannte in grossen entschlossenen Schritten die Rampe hinunter. Yeva wollte sich ihm gerade in den Weg stellen, als Lea ihr laut zurief: “Nein, lass ihn, Yeva!”
Yeva nickte ihr zu und schaute Jean zu, wie er an ihr vorbei sauste schnurstracks auf den hohen Zaun zu. Niemand rannte ihm nach. Es war still, nur Jeans Schritte auf dem Kies waren zu hören. Er kam am Zaun an und versuchte die glatten Stangen hoch zu klettern, rutschte aber immer wieder ab. Er blickte hoch, sah den Stacheldraht, der den Zaun oben umsäumte; dann sackte er in sich zusammen. Genau so blieb er liegen. Er hatte den letzten Rest seiner Kraft gebraucht, um den Fluchtversuch zu wagen, jetzt war er am Ende. Lea lief zu ihm, Yeva folgte kurz danach.
“Du bist jetzt in Sicherheit! Wir sind Freunde! Komm, ich mach dir einen Tee und dann kannst du dich erstmal ausruhen!”, sagte Lea fürsorglich.
Jean blickte hohl in sich hinein. Hörte er, was Lea sagte?
Die beiden Frauen stützten ihn unter den Schultern und gingen so langsam mit ihm ins Zentrum. Jean konnte kaum seine Füsse hoch heben; er schlurfte dem Boden nach, hing in ihrer Mitte.
Jetzt stand auch Kahil in der Empfangszone. Er hatte milde Augen und war gross und breit. Unrasierte Bartstoppeln standen ihm im Gesicht und machten sein Erscheinungsbild locker. Er war der Typ Mensch, an dessen Schulter man sich ausruhen wollte. Guillaume begrüsste Kahil mit einem kräftigen Händedruck, während Yeva und Lea den erschöpften Jean ins Innere des Zentrums begleiteten. Er wollte keinen Tee, sondern nur schlafen, also brachten sie ihn
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