Der letzte Aufstand
Leere. Er verpasste ihr einen Kick, so dass sie fast zwei Meter weiter flog.
„Neunundzwanzig ...“, tönte die automatische Stimme im Begleiter. Gerade als Yeva ihre Bewegung stoppen konnte, hob sie ihren Kopf und sah Guillaume. Er stand breitbeinig vor ihr, den Tazer auf Takashi gerichtet. Dann feuerte er das Teil ab. Die dünnen elektrischen Fäden mit den Pfeilspitzen sprangen aus den Verankerungen hervor und wurden durch die Wucht des komprimierten Nitrogens mit immenser Geschwindigkeit nach vorne geschleudert. Bei Takashi angekommen schlugen sie durch die Kleidung und bohrten sich oberflächlich in seine Haut. Im selben Moment verkrampften sich Takashis Muskeln unwillkürlich, weil 150‘000 Volt durch die Drähte auf seinen Körper losgelassen wurden. Takashi fiel zu Boden. Die Spritze hielt er verkrampft in der rechten Hand.
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769 Tage vor „Tag X“
WORLD TERROR UPDATE
Seoul, Korea
Auf dem internationalen Flughafen von Seoul gab es heute einen dramatischen Unfall mit einer darauf folgenden Massenpanik, in der mindestens zweihundert Menschen schwer verletzt wurden.
Eine Maschine des Typs Airbus B3, die um 20.05 lokale Zeit mit Ziel Hong Kong vom Flughafen abhob, meldete kurz nach Abflug Probleme mit dem Triebwerk. Der Pilot drehte die Maschine und informierte den Tower, dass er zu einer Notlandung ansetze. Das Flugzeug verfehlte dann jedoch die Landebahn und krachte in das Terminal 3. Die darauf folgende Explosion riss das Gebäude des Terminals auseinander.
Die Polizei geht von einem Terroranschlag aus, kann aber noch keine Details angeben. Die Untersuchungen vor Ort laufen auf Hochtouren.
Alle 280 Passagiere und die zehn Crew-Mitglieder fanden bei dem Unfall den Tod. Auch die Passagiere, die im Terminal 3 auf ihren Flug warteten, kamen nicht mit dem Leben davon. Die Behörden gehen von mindestens vierhundert Toten am Boden aus. Dies ist ein düsterer Tag für Korea. Man rechnet mit etlichen weiteren Toten, die an den Verletzungen, die sie durch die Massenpanik erlitten, sterben werden.
Die Lage in Seoul wird auf unserer Webseite stündlich aktualisiert.
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Kanada, 175 Tage bis „Tag X“
Leas Schreie blieben aus. Die nächste halbe Stunde schnitzte Henk still vor sich hin. Das Holz bekam Konturen. Oben, dort wo das Holz vielleicht zehn Zentimeter dick war, begann es dem Kopf eines Insekts zu gleichen. Grosse Augen ragten beidseitig aus dem Holz und schienen in die Welt zu blicken.
Plötzlich hatte die Stille etwas Bedrohliches. Nichts ausser Vogelgezwitscher war zu hören. Kahil kniete immer noch vor Henk. Seine Knie taten weh, doch er wollte dem Mann keinerlei Macht zugestehen, also blieb er so sitzen, wie er sich vor einer halben Stunde gebettet hatte. Einfach keine Schwäche zeigen, erinnerte Kahil sich immer wieder. Aber die Stille hielt er nicht mehr aus.
„Was habt ihr mit Lea gemacht?“
„Du meinst, wieso sie nicht mehr schreit?“
Kahil antwortete nicht.
„Sie ist wohl bewusstlos. Wenn du mit dem Vard arbeitest, werden die Menschen schnell bewusstlos. Der Schmerz ist einfach zu gross.“
Die Grenze war überschritten. Kahil verlagerte das Gewicht und fand auf seine Füsse, dann stemmte er sich hoch.
„Wir werden euch nie irgendetwas verraten, du Schwein!“, schrie er. Mit grossen ausladenden Tritten ging er auf Henk los. Doch immer wenn er ihn fast getroffen hätte, wich dieser aus, als sei es ein Kinderspiel. Eine geschlagene Minute trat Kahil auf den Mann ein, der sich aber mit klitzekleinen Bewegungen immer in Sicherheit bringen konnte.
Dann hörte Kahil auf. Er atmete heftig, hatte sich total verausgabt. Er hatte innerlich losgelassen, doch jetzt holten ihn seine Prinzipien wieder ein: keine Gewalt.
Kahil begann wieder zu weinen. Hatte er sich überschätzt? Die Gewalt war so lange Teil seines Lebens gewesen; jetzt verachtete er sie und alles was zu ihr gehörte aus tiefstem Herzen. Die Tränen waren keine Tränen des Schmerzes, es waren Tränen der Verzweiflung, Tränen des Widerstands.
Henk betrachtete den schnaufenden und schluchzenden Kahil. Dann tat er einen Schritt nach vorne. Er nahm sein Messer und hielt es Kahil unter die Nase. Kahil schloss die Augen. Er musste den Mann nicht mehr ansehen, er kannte seine Visage in- und auswendig, seit er eine halbe Stunde vor ihm gesessen hatte. Er wollte ihn und alles, für das er einstand, nicht ansehen.
„Allah ist gross!“, sagte Kahil und wiederholte den arabischen Spruch
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