Der Letzte Bus Nach Woodstock
gar nichts mitbekommen hatte. Allmählich kehrte die Erinnerung an den gestrigen Tag zurück, und die ruhige Heiterkeit, die er nach den angenehmen Träumen der vergangenen Nacht noch verspürt hatte, verflog. Er setzte sich langsam noch einmal auf die Bettkante und überlegte bedrückt, während er sich mit der Hand immer wieder ratlos über das unrasierte Kinn fuhr, was ihm der heutige Tag wohl bringen mochte. Es kam ihm so vor, als ob er, je länger er sich mit diesem Fall beschäftigte, zunehmend stärkeren Stimmungsschwankungen unterworfen war. Einen Tag auf dem Gipfel der Zuversicht, am nächsten schon im tiefen Tal der Verzweiflung. Heute war er mal wieder unten.
Um Viertel vor acht war er gewaschen, rasiert und angezogen und fühlte sich schon etwas besser. Er kippte den Rest seiner allabendlichen Malzmilch in den Ausguß, spülte sein Whiskyglas und füllte den Wasserkessel. Während er darauf wartete, daß das Teewasser zu kochen anfing, betrachtete er nachdenklich seinen bandagierten Fuß.
Er hatte in den letzten Tagen einen riesigen Turnschuh getragen, den er lose geschnürt und an der Ferse aufgeschlitzt hatte, so daß der durch den Verband unförmige Fuß einigermaßen hineinpaßte. Aber jetzt mußte er sich etwas anderes einfallen lassen. Miss Widdowson würde sich bedanken, von einem Kavalier begleitet zu werden, der nicht mal anständige Schuhe anhatte. Er besaß noch zwei Paar Slipper, die aber rechts auch zu eng sein würden, und um seinen Vorrat an Socken war es gar nicht gut bestellt. Er beschloß, zu Marks & Spencer zu gehen und dort ein neues Paar Schuhe zu erstehen, ein oder zwei Nummern größer als sonst. Er schwor auf Marks & Spencer. Der Einkauf würde nicht ganz billig werden, aber das half nun alles nichts. Er goß den Tee auf und trat, während er ihn ziehen ließ, ans Küchenfenster. Der Sturm hatte die Mülltonne hinter dem Haus umgekippt, und der Abfall lag überall verstreut. Er mußte nachher unbedingt noch einen Blick aufs Dach werfen. Vielleicht hatten sich Ziegel gelockert.
Morse fühlte einen Teil seines Selbstvertrauens zurückkehren. Durch die paar Kleinigkeiten gestern hätte er sich nicht so entmutigen lassen sollen. Er würde alles noch einmal gründlich überdenken müssen. Aber eins nach dem andern. Wo hatte er denn jetzt seinen Federhalter, den Kamm und die Brieftasche gelassen? Zu seiner großen Erleichterung fand er alles nebeneinander im Schlafzimmer auf dem Kaminsims. Ihm war schleierhaft, wie es dahin gekommen war.
Der Lancia war auch noch da. Ein guter Wagen. Schnell, zuverlässig und sparsam im Verbrauch. Eine Tankfüllung reichte für fast 500 km. Von Zeit zu Zeit hatte er mit anderen Autos geliebäugelt, aber er konnte sich nicht trennen. Zwischen der Garagenwand und der Fahrerseite war nur ein schmaler Zwischenraum, und er quetschte sich mit eingezogenem Bauch nach vorne durch. Er sollte wirklich versuchen abzunehmen. Es war ein gutes Gefühl, wieder hinter dem Lenkrad zu sitzen. Er zog den Choke etwas weiter heraus als sonst – der Wagen war schließlich eine Woche nicht gefahren worden – und versuchte zu starten. Statt des erwarteten kräftigen Motorgeräusches kam nur der jammernde Ton des Anlassers. Noch mehr Choke? Er mußte aufpassen, daß er ihn nicht absaufen ließ. Erneut versuchte er es. Wieder Fehlanzeige. Komisch, das hatte er noch nie erlebt. Aller guten Dinge sind drei, dachte er. Dasselbe Jammern wie eben. Täuschte er sich, oder klang es schon schwächer? Offenbar war die Batterie erschöpft. Er sollte vielleicht ein paar Minuten abwarten. So. Jetzt aber! Wieder dieser ans Herz gehende Ton, deutlich leiser werdend. Wenn er weitermachte, wäre die Batterie vermutlich gleich leer. Daß ihm das ausgerechnet heute passieren mußte! Wie sollte er denn ohne Auto … Er hielt plötzlich inne und fühlte, wie ihn ein Kälteschauer überlief. Wenn das stimmte, was ihm da gerade eingefallen war … Die Flut zog sich zurück. Noch schlugen die Brecher an den Strand, aber ihre Gewalt war gemindert. Seine Sandburg hatte standgehalten und war für den Augenblick gerettet.
Der Geschäftsführer der Firma Auto-Barkers. Reparatur und Zubehör war von Morses Mischung aus Autorität und Höflichkeit derartig beeindruckt, daß er sofort einen Mechaniker mit einer neuen Batterie losschickte. Dieser war in zehn Minuten da, die Batterie auszuwechseln dauerte nicht einmal fünf. Draußen war ein strahlendblauer Himmel. Ein Herbsttag, wie von Jane Austen
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