Der Letzte Bus Nach Woodstock
pro Woche, Dienstag und Donnerstag vormittags – fortgesetzt werden.«
Lewis sah Sylvia Kaye vor sich, wie sie bei Dr. Green im Behandlungszimmer gesessen haben mochte. Plötzlich durchfuhr ihn ein Gedanke. Morses Anwesenheit wirkte offenbar inspirierend auf ihn. »Wäre es nicht möglich, daß, äh …« Jetzt klang er schon fast so wie Green!
»Daß was?« fragte Morse mit ungewöhnlichem Ernst in der Stimme.
»… daß Green mit Sylvia ein Verhältnis hatte?«
Morse verzog den Mund zu einem halb traurigen, halb nachsichtigen Lächeln und leerte sein Glas. »Das ließe sich vermutlich feststellen.«
»Nur weil Sie sagten, diese Krankenakte sei von großer Bedeutung.«
»Von entscheidender Bedeutung«, korrigierte ihn Morse.
»Und haben Sie gefunden, was Sie zu erfahren hofften?«
»Wenn Sie so wollen, ja. Was mir fehlte, war, sagen wir mal, noch so etwas wie eine Bestätigung. Das Wesentliche hat mir Dr. Green gestern schon am Telefon gesagt.«
»Dann, äh … wissen Sie ja, äh … wie es mir heute mit ihm ergangen ist äh …«
Es war das letzte Mal in diesen Tagen unmittelbar vor der endgültigen Aufklärung des Falles, daß Lewis dem Inspector ein Lächeln entlocken konnte.
Sue hatte am Dienstagnachmittag frei und war sehr froh darüber. Die Arbeit in der Unfallambulanz war anstrengend, man mußte die ganze Zeit auf den Beinen sein. Sie war allein im Haus, Jennifer und Mary waren noch nicht von ihrer Arbeit zurück. Vielleicht sollte sie etwas essen. Sie ging in die Küche, machte sich einen Toast und setzte sich damit an den Tisch. Geistesabwesend knabberte sie an der gerösteten Weißbrotscheibe und starrte auf die weißen Küchenfliesen. David wartete sicher schon auf den Brief, den sie ihm versprochen hatte. Sie mußte sich heute nachmittag endlich hinsetzen und an ihn schreiben. Wenn sie nur wüßte, was! Sie konnte ihm natürlich von ihrer Arbeit berichten und ihm noch einmal sagen, wie sehr ihr das Wochenende gefallen hatte und daß sie sich schon darauf freue, ihn wiederzusehen.
Nur – es stimmte nicht. Sie hatte in den letzten Tagen gemerkt, daß er ihr innerlich gleichgültig geworden war. Aber David war immer so gut zu ihr gewesen, sie durfte sich nicht einfach mir nichts, dir nichts von ihm abwenden. Das hatte er nicht verdient.
Sie beschloß, sich Mühe zu geben. Doch bereits im nächsten Augenblick wußte sie, daß es so nicht gehen würde. Sie war eine Egoistin. Davids Gefühle und Wünsche waren ihr letztlich egal, was zählte war allein ihre Sehnsucht und das Verlangen, Morse wiederzusehen. Es war unsinnig, töricht, ja sogar gefährlich, daß sie immer noch an ihn dachte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Wenn sie ihn nur sehen und seine Stimme hören könnte … Das würde ihr schon genügen. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie weiter auf die Küchenwand. Es gab keinen Menschen, dem sie sich in ihrer Gewissensqual hätte anvertrauen können.
Jennifer hatte am Dienstagnachmittag mehr zu tun als sonst. Ihr Chef Palmer hatte ihr einen Entwurf für einen Brief gegeben und sie etwas verschämt gebeten, ihn durchzusehen. Es ging darum, den verehrten Versicherungsnehmern so schonend wie möglich beizubringen, daß sie nach Weihnachten mit einer saftigen Prämienerhöhung zu rechnen hatten. Mit seinen Formulierungskünsten ist es wirklich nicht weit her, dachte Jennifer. Der erste Absatz bestand aus lauter Relativsätzen, und Palmers Expose erinnerte sie an die verschachtelten Perioden gewisser lateinischer Schriftsteller. Sie nahm, ohne zu zögern, energisch ihre Verbesserungen vor. Hier ein Punkt und anschließend ein neuer Hauptsatz, dort ein Einschnitt. Dieses Wort konnte man streichen. So. Jetzt war das Ganze schon sehr viel klarer. Palmer wußte, daß sie von allen Mädchen im Schreibzimmer das mit Abstand gescheiteste war. Er hatte blindes Vertrauen in ihre Urteilskraft und Stilsicherheit und holte bei wichtigen Briefen immer erst ihren Rat ein, bevor er sie diktierte. Trotzdem fühlte sie sich hier schon seit längerem unterfordert. Letzte Woche hatte sie sich endlich durchgerungen und auf zwei Stellenanzeigen geantwortet. Das würde sie allerdings vorläufig niemandem auf die Nase binden. Auch Mr. Palmer brauchte es noch nicht zu wissen. Obwohl sie sich nicht über ihn beklagen konnte – im Gegenteil. Und das Gehalt, das er ihr zahlte, war nicht schlecht. Sie bekam fast soviel wie Mary und Sue zusammen. – Sue! Sie dachte an den Sonntagabend, als sie aus
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