Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation
buntes friedliches Zusammenleben, den Hass der Welt hatten wir ausgesperrt. Obwohl sie das Land unter ihrem Feldherren Tarik mit Waffengewalt erobert hatten, lernten die Araber schnell, sich friedlich mit den fremden Bräuchen zu arrangieren. Die Christen und wir Juden hatten nach einigen Generationen den Krieg vergessen. Wir waren geblendet von der Pracht und dem Glanz, den die Muslime mitbrachten.
Wir in Granada bewunderten die schönen Stoffe, die prachtvollen Bauten, die herrlichen Gärten, die filigranen Verzierungen, mit denen die Muslime ihre Paläste und Moscheen schmückten.
Alle lernten von der Kultur des fremden Volkes und schon bald wurden aus den Eindringlingen unsere Nachbarn. Handel blühte ohne Neid und Missgunst. Berühmte Sänger wie Ziriab aus Bagdad traten in Granada auf. Die Musiker ließen sich von den neuen Klängen inspirieren. Auch ich spielte am Abend in meinem Zimmer sehnsuchtsvolle Melodien auf der Laute. Heimlich. Kein Mensch sollte hören, welche Gefühle mich bewegten.“
„Warst du nicht glücklich in Granada?“, fragte Tamas.
„Doch, das war ich. Aber von Anfang an lag ein Schatten über meinem Leben.“
„Ich verstehe, was du meinst. Dieses Leben ist nur geliehen, wir sind nur Simulationen auf dieser Reise. So echt sich diese Welt auch anfühlt, sie hinterlässt trotzdem den schalen Geschmack der Flüchtigkeit.“
„Ich weiß, aber lange Zeit hindurch konnte ich es vergessen. Wenn ich mit meinen Hunden Biba und Hasan im Obstgarten unseres Hauses spielte und im betörenden Duft der Obstblüte versank, gab es keine andere Welt mehr für mich und ich war nur noch Susana. Eifersüchtig beäugten uns die Pfauen, die mit gespreizten Schwanzfedern in den Blumenrabatten umherstolzierten. Meine Familie war reich, Tamas. Mein Vater Nachum und meine Mutter Rabea stammten aus alteingesessenen und angesehenen Familien der Stadt. Auch wenn sie Juden waren, dienten sie seit Generationen als hohe Beamte und Diplomaten bei den Mauren, wie man die Anhänger des Islam nannte. Vater hatte die Aufsicht über die Zolleinnahmen der Stadt und führte gleichzeitig ein bedeutendes Handelshaus, das mit Salz, Gewürzen, Tierhäuten und feinen Tuchen handelte.
Unser weitläufiges Wohnhaus lag im Albaycinviertel, unterhalb der rötlich schimmernden, hoch aufragenden Mauern des prächtigen Palastes der Mauren, der Alhambra*.“
Tamas lauschte ihrer Erzählung, während sich das Panorama Londons zu seinen Füßen wie ein dunkler, willkürlich hingeworfener Schatten vor ihm ausbreitete. Der Mond war von Wolken verhüllt, der Lauf der Themse nur noch zu ahnen.
„Magst du noch weiter zuhören?“ Sie nahm den Kopf von seiner Schulter, wandte sich ihm zu.
„Was? Natürlich will ich weiter zuhören! Ich will wissen, wie es dir in Gestalt der Jüdin Susana ergangen ist. Erzähl mir Susanas Geschichte und lös dich bloß nicht wieder in Luft auf!“
„Das Schicksal bleibt niemals von gleicher Art,
denn es muss Freuden ebenso wie Leiden geben!
Diese Verse sangen die Sänger in Andalusien, als sich das Unheil in Gestalt des christlichen Heeres nahte.
An einem Januarmorgen des Jahres 1492 erschreckte mich ein Schwarm Krähen, der vor dem südlichen Stadttor Granadas aufflog. Ich stand mit Nachum und Rabea und vielen anderen Bürgern an der Straße, durch die sich der endlose Zug der ausgewiesenen Muslime quälte. Boabdil, der letzte maurische Herrscher von Granada, hatte den Schleier seines Turbans dicht um sein Gesicht gezogen. Niemand sollte seine Tränen sehen. Fast 700 Jahre hatten sie in diesem Land gelebt.
Granada war die letzte Stadt, die der lange währenden Rückeroberung, der Reconquista*, durch die christlichen spanischen Heere standgehalten hatte.
Wie beschämend es für Boabdil und die Seinen war, sich durch die enge Gasse zu winden, welche die Soldaten vor der Stadt frei gelassen hatten!“, fuhr sie fort. „Wir empfanden es als Unrecht, mit welcher arroganten Siegerpose Königin Isabella von Aragon und Ferdinand von Kastilien auf den mit Brokat überzogenen Sesseln unter einem goldenen Baldachin dem Schauspiel der Erniedrigung zusahen.“
Vorbei mit der Toleranz
Sie schwieg einige Sekunden, als falle es ihr schwer, mit ihrer Geschichte fortzufahren. Schließlich erzählte sie weiter: „Mit dem endgültigen Abzug der Mauren war es vorbei mit der Toleranz in den zuvor von Arabern besetzten Städten. Ein Austausch der Kulturen fand nicht mehr statt. Das friedliche Zusammenleben der
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