Der letzte Code - ein Roman über die Geschichte der Zivilisation
Flamme.
„Um Gottes willen, lass es liegen!“
Ein ärgerlicher Ruf. Eine Gestalt eilte mit raschen Schritten aus der Dunkelheit des großen Raumes herbei und entriss ihm das Buch.
„Bist du wahnsinnig, junger Mann! Von der Tabula smaragdina gibt es nur dieses eine Exemplar!“
Der Mann nahm das Buch schleunigst an sich und legte es zurück aufs Regal.
„Reuben, Onkel, sei nicht so streng mit ihm. Er ist noch ein bisschen verwirrt.“
„Susana!“
Sie war mitgekommen. Tamas hatte sie in seiner Verwirrung erst gar nicht bemerkt. Auch war ihr Aussehen verändert. Sie trug ein langes, mit Schmuckpailletten verziertes Kleid und eine feine Samtkappe, die ihr langes Haar bändigte.
„Tamas!“
Sie umarmten sich.
„Tamas, das ist Reuben van Scheltinga, der beste Freund meines Vaters, der uns aufgenommen hat. Onkel Reuben ist Alchemist*, Wissenschaftler und Philosoph. Und das ist mein Freund Tamas, der mit mir gekommen ist. Ich habe dir von ihm erzählt, Reuben.“
Die Miene des bärtigen alten Mannes hellte sich auf. Er war in einen dunkelroten Umhang gekleidet, trug ein Samtbarett, unter dem langes Haar hervorwallte. Jetzt blickte er Tamas freundlich an.
„Entschuldige, wenn ich schroff war. Ich war in Sorge um die Tabula. Es ist eines der ältesten Lehrbücher unserer Wissenschaft. Bereits die Ägypter machten sich vor 3 000 Jahren Gedanken über die Transmutation, über die Verwandlung von unedlen Metallen in Gold und Silber.“
Tamas kam sich ziemlich blöde vor. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Ich weiß, dass unsere Wissenschaft in dem Zeitalter, aus dem du kommst, wenig Achtung findet.“
Aus dem ich komme?, dachte Tamas. Was weiß der Mann denn? Was hat ihm Susana erzählt? Er sah sich nach ihr um. Sie streichelte den Kater.
„Wieso ist Billy hier?“
„Er heißt nicht Billy. Das ist Nepomuk, der Hauskater dieses Labors. In diesem alten Handelskontor gibt es eine Menge Jagdbeute für ihn.“
„Was meintet Ihr mit dem ‚anderen Zeitalter‘, Herr van Scheltinga?“
Der Alchemist deutete ein Lächeln an. Tamas wusste nicht, wie er den Mann einschätzen sollte. Kurz dachte er daran, bei Pandora Alarm zu schlagen. War der Mann vielleicht wie er und Susana ein Versuchskaninchen unter vielen anderen?
„Onkel Reuben“, sagte Susana, „ist ein besonderer Mensch. Er kennt die Zukunft. Die Menschen dieses Viertels achten ihn sehr.“
„Übertreibe nicht, Susana“, winkte van Scheltinga ab. „Es gibt viele, denen unsere Wissenschaft nicht geheuer ist. Für sie sind wir Magier, Zauberer, Meister der Schwarzen Kunst, denen man besser aus dem Wege geht.“
„Du bist ein Zauberer“, sagte Susana, „ein guter Zauberer, du hast meiner Familie geholfen. Das zählt für mich.“
„Wir Alchemisten wissen einiges über die Vorgänge in der Natur. Vor allem ist unser Bestreben, mehr Wissen darüber zu erlangen, was die Welt im Innersten zusammenhält.“
Umwandlung der Seele
„Ich habe gelesen, dass es in der Alchemie darum geht, Gold zu machen“, sagte Tamas. Dass er das für Blödsinn hielt, sagte er nicht.
„Du scheinst ein interessierter junger Mann zu sein. Ich werde dich mit einigem vertraut machen, auch wenn unsere Kunst uns weitgehend zu strengem Stillschweigen verpflichtet. Alle Welt nimmt an, dass wir uns einzig mit der Herstellung von Edelmetallen wie Gold, Silber oder der Schaffung von Edelsteinen beschäftigen. Und andere, die glauben, das Wesen unserer Arbeit beurteilen zu können, verbreiten gar die Kunde, wir wären in der Lage, künstliche Menschen wie den Homunculus* oder den Golem* in die Welt zu setzen. Die Leute haben nicht verstanden, dass die Transmutation, die Umwandlung der Stoffe in andere, edlere, sich nicht nur im praktischen Tun erschöpft. Nicht nur in der Arbeit des Schmelzens und Gießens, des Legierens und Mischens nach uralten Rezepten. Nein, dabei handelt es sich nur um einen Teil, der einhergeht mit der Philosophie, mit der Umwandlung der Seele des Menschen.“
„Würdet Ihr mir das bitte noch näher erklären, Herr van Scheltinga?“
„Während der Umwandlung mancher flüssiger und fester Stoffe wird sich oder soll sich auch der Geist umwandeln, die Seele des Alchemisten läutern und den Mikrokosmos im Makrokosmos, das Kleinste also im Großen, im ganzen Universum widerspiegeln. Ich weiß, es ist nicht leicht zu verstehen. Es erfordert lange Jahre der Arbeit und der Versenkung in dieses Tun.“
„Meditation?“
„Das könnte man so
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