Der letzte Drachenlord - Hatfield, M: Der letzte Drachenlord
Rasiermesser zitterte. Hätte sie nur den Mut, es in Wirklichkeit zu tun.
Alexia stöhnte und schmiss das Ding auf den Boden. Mit fest zusammengepressten Augen beugte sie sich über das Waschbecken. Sie fühlte ein Brennen in ihren Eingeweiden, obwohl sie mit schnellem Atem dagegen ankämpfte. Sie legte die Hand auf die schmerzende Stelle und wusste doch, was der Auslöser dafür war.
Eine innere Leere und dieses Brennen spürte sie schon seitLangem, aber in den letzten Jahren war es noch gewachsen. Die Finsternis dort fraß sich tiefer und tiefer in ihre Seele. Anfangs hatte sie selbst noch dazu beigetragen, obwohl sie wusste, dass das falsch war. Jede Folterung, die sie vornahm, jede arme Seele, die sie auf dem Gewissen hatte, vergrößerte die Leere in ihr, und nun drohte sie, ganz und gar davon verschlungen zu werden. Noch schlimmer war, dass sie in letzter Zeit nicht mehr so eindeutig Freund und Feind klar in Schwarz und Weiß trennen konnte, wie es ihr früher gelungen war.
Als sie wieder in den Spiegel schaute, waren auch die letzten Wassertropfen verschwunden. Klar und frisch blickte ihr eigenes Spiegelbild sie an. Sie sah jetzt ganz gelassen und gut aus, als hätte sie eine Maske aufgesetzt, die alle in ihr tobenden Emotionen verbarg. Sie wirkte nicht länger jämmerlich, verängstigt oder verzweifelt, obwohl sie seit dieser Nacht mit Lotharus eine Mischung von alldem in sich spürte …
Alexia richtete sich auf und verdrängte die Erinnerungen. Sie schritt zum Kleiderschrank, schob das lederne Kampfzeug heftiger als notwendig beiseite und suchte sich stattdessen eine blaue Chiffon-Toga aus, die der Anwesenheit ihrer Mutter angemessen war. Der dünne Stoff glitt mit kaum mehr als einem Flüstern über ihren Kopf, er war weich, leicht und fühlte sich geradezu schockierend luftig an, das genaue Gegenteil des einengenden Korsetts, das sie sonst jeden Tag trug.
Plötzlich wurde ihr die Luft eng. Sie fühlte sich nackt. Bloßgestellt. Rang nach Luft. Hastig steckte sie beide Hände in den Kleiderschrank und wühlte zwischen ihren Sachen herum. Endlich fand sie das kurze Wurfmesser in einem Schenkelholster, mit dem sie es unter dem Kleid verbergen konnte. Als sie den Riemen stramm zog, wurden ihre zitternden Hände wieder sicherer, und als der Schnappverschluss einrastete, war es, als würde sie an einer Sicherheitsleine wieder an die Oberfläche gezogen.
Erleichtert ging sie zu einem Schminktisch, der neben ihrem Bett stand, und begann, sich langsam und methodisch das Haar zu kämmen. Aus irgendeinem Grund bedrückte sie die an sichgewohnte Leere und Stille um sie herum heute. Nie waren Männer, Frauen und Kinder anwesend, aber Alexia kannte schließlich nichts anderes. Schon seit vielen Jahren hatte sie nur sehr selten einen auf natürliche Weise zur Welt gekommenen Vampir zu Gesicht bekommen. Die hausten alle in einem anderen, abgeschiedenen Teil der Anlage, irgendwo viel tiefer in den Klippen. Es war ihr nicht erlaubt, diesen Ort zu betreten. Sogar ihre persönlichen Bediensteten bestanden auf Lotharus’ Befehl ausschließlich aus seinen Soldaten, damit sie und ihre Mutter von den anderen ferngehalten wurden.
Obwohl er behauptete, nur so sei es ihrem Rang angemessen, hatte Alexia den Verdacht, dass er auf diese Weise die Königin und ihre Thronfolgerin unter seiner Kontrolle, unter seiner immer aufmerksamen Beobachtung halten wollte. So oder so, die Tatsache machte sie traurig. Was, wie sie vermutete, ebenfalls Lotharus’ Intention entsprach.
In Wahrheit unterschied sie sich gar nicht so sehr von den armen Seelen, die in den Kerkern vor sich hin faulten. Zugegeben, sie war nicht in Ketten, ihr Kerker war größer und nicht so schmutzig. Nichtsdestoweniger war auch sie eine Gefangene.
Genau wie er.
Sie verdrängte den Gedanken. Stattdessen rief sie sich eine erfreulichere Erinnerung ins Gedächtnis, eine ihrer wenigen. Noch aus der Zeit, als ihre Großmutter die Herrscherin war. Die längst vergangenen, trällernden Klänge von Kinderlachen echoten in ihrem Kopf. Bilder von ihr selbst, wie sie barfuß und fröhlich durch die Katakomben tobte, stiegen vor ihrem geistigen Auge auf. Sie konnte das strahlende Lächeln auf ihrem Gesicht regelrecht spüren. Das lange Haar sehen, das hinter ihr herwehte wie ein Papierdrache. Ein anderes Mädchen, an dessen Name sie sich nicht einmal mehr erinnern konnte, rannte hinter ihr her. Eine Freundin von mir, dachte sie mit wehmütigem Lächeln. Wie lange war es
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