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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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verließ. Es dauerte eine ganze Weile, zur Kirche hinaufzugehen. Der Anstieg war steil, die Glieder verschlissen. Obwohl der Geistliche seine nicht zu unterschätzenden Überredungskünste einsetzte, blieb sie mehrmals stehen wie eine Kuh und weigerte sich, auch nur einen Meter weiterzugehen. Sie drehte den Kopf, schaute sich um, als würde sie Erinnerungen wiederkäuen, und erklärte schließlich, sie sei sich nicht sicher, ob das wirklich der beste Weg sei. Kam man nicht schneller zur Bäckerei, wenn man die Abkürzung zwischen den Bäumen nahm? Ansonsten müssten sie sich vor dem Hügel da hinten hüten, denn dort wurden den Armeniern die Zungen abgeschnitten. Despina war mittlerweile so ausgezehrt, dass das Abendlicht durch sie hindurch schien. Ihre Schultern waren breiter als ihre Hüften und die Haare zu einem Dutt zusammengeschnürt, dessen Gewicht sie als einziges davon abzuhalten schien, nach vorn zu fallen. Sie roch nach ranziger Niveacreme.
    Schließlich saß sie dann doch in der Nische hinter dem Altar. Sie hielt den Hörer mit beiden Händen und als die Stimme ihres Enkelkindes ertönte, war der Priester überrascht zu sehen, wie sie den Redeschwall an ihr Ohr presste. Jannis sprach lauter als nötig, und Despina brummte ermunternd, als verstünde sie ihn, noch ehe er dazu gekommen war, ihr zu sagen, was er wollte, und als wünschte sie, er würde schneller zur Sache kommen. Gleichzeitig schweifte ihr Blick argwöhnisch umher, und irgendwann fragte sie den Geistlichen: »Ist das wirklich das einzige, das wir haben? Was sollen wir nur tun, wenn sie kommen?« Es blieb unklar, worauf sie sich bezog, möglicherweise hielt sie den Hörer für ein Nudelholz. Zweitausend Kilometer weiter nördlich spürte ihr Enkel, dass die Großmutter seinem Griff entglitt. Er sprach lauter und sagte, sie könne tun, was sie wolle, aber sie müsse ihm versprechen, das Badehaus nicht mehr zu benutzen. »Hörst du, jiajiá ? Niemand darf das Himmelreich besuchen!« Er atmete stoßweise, als wäre etwas aus seinem Magen auf dem Weg nach oben.
    »Keiner, habe ich gesagt …«
    »Wo …«
    »… darf jemals …«
    »… sind die Türken …«
    »… in seine Nähe …«
    »… denn nun …«
    »… kommen.«
    »… eigentlich?«
    Obwohl Despina nicht begriff, warum Jannis so aufgewühlt war, und vielleicht nicht einmal, dass er es war, der da im Hörer schrie und strampelte, versprach sie zu tun, was der Geistliche ihr erklärte, als sie aufgelegt hatte. Insgeheim dachte Vater Lakis, dass sie ohnehin fast nie aß, kaum etwas trank und am liebten zwischen ihren Erinnerungen, so bleich und fadenscheinig wie Laken, dahinsiechte. Gleichwohl war er bedrückt. Er hatte geglaubt, das Gespräch würde die Smyrniotin zu neuem Leben erwecken – wie ein Kaleidoskop, das nur geschüttelt werden musste, um schöne, vernünftige Muster zu zeigen. Doch stattdessen hatte sich ihr Gehirn in gebrochenes Licht aufgelöst. »Das Himmelreich?«, sagte sie. »Für so etwas bin ich zu alt.«
    SPARTA . Nach einigen Herbsttagen bekam Agneta einen Vorgeschmack davon, wie schnell sich das Leben eines Menschen verändern kann, wenn er weiß, dass man ihn sieht. Nennen wir das Datum: Es war der 29. August (ein roter Tag, wenn auch nicht in Jannis’ Kalender). Nach dem Mittagessen ließ sie sich die Haare in einem der Salons frisieren, die nach dem Sommer eröffnet hatten, und ging anschließend zur Buchhandlung Gleerups, wo sie den Kinderwagen schaukelte, während sie mit dem Zeigefinger über die Lehrbücher in den Regalen strich. Nachdem sie gefunden hatte, wonach sie suchte, blätterte sie noch in Reportagen und Büchern zu politischen Themen, die auf den Tischen auslagen, Schriften mit sachlichen Titeln und grobkörnigen Fotos auf dem Umschlag. Und als die Jugendlichen in Batikhemden, die vor dem Buchladen Geld sammelten, sie um eine Spende baten, presste sie eine Fünfundzwanzigöre-Münze in die Büchse. Danach führte sie ihr Weg zur Markthalle, wo eine Verkäuferin den Muttermilchersatz für Jane erwärmte, die aufgewacht war und Agneta vollkommen reglos, mit großen, bodenlosen Augen ansah.
    Mittlerweile war es halb zwei. Sie spazierte durch die Stadt und wartete darauf, dass Jannis ausstempeln und sich mit ihr an der großen Bushaltestelle treffen würde. Als sie zum Botanischen Garten kam, gingen, in ein Gespräch vertieft, zwei ausländische Studenten mit Goldzähnen und allem an ihr vorbei. Die Männer sprachen Griechisch. Ohne dass Agneta

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