Der letzte Krieger: Roman
Blick bei Nacht nicht weit. Sie durfte nicht zu hoch, aber auch nicht zu niedrig fliegen, sonst würde sie Nekyra in der Dunkelheit übersehen.
Die Erhabene missbilligte diesen Spähflug. Daran hatten Blick und Tonfall keinen Zweifel gelassen. Doch Mahalea glaubte nicht, dass ihre Tante lediglich um ihr Wohlergehen besorgt war. Nach Hunderten einsamer Flüge über Theroia, die sie mit der Zeit absolviert hatte, wäre dies reichlich albern gewesen. Zu Mahaleas Überraschung hatte sie stattdessen Unsicherheit hinter Ivanaras resoluter Fassade gespürt.
Warum wundert mich das? Die Trollkriege, in denen ihre Tante gekämpft hatte, waren Jahrhunderte her, und sicher spürte die Erhabene ihr Alter jeden Abend, wenn sie vom Pferd glitt. Ivanara mochte die Rolle der Feldherrin mit der üblichen Entschlossenheit übernommen haben, aber in Wahrheit schien sie erleichtert, die Bürde mit Mahalea teilen zu können.
Wenn ich sterbe, muss sie sich allein gegen die Untoten und Kavarath behaupten. Mahalea presste die Lippen aufeinander. Ja, diese Sichtweise passte sehr viel besser zu der Erhabenen, die sie kannte.
Zerklüftete Hügel lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Landschaft unter ihr. Es war lange her, dass sie Abbildungen davon gesehen hatte, doch an die Lage der Stätte erinnerte sie sich gut. Der felsige Hang, in den die Menschen Grabkammer an Grabkammer geschlagen hatten, ähnelte einem Bienenstock, in dem sich Wabe an Wabe drängte. Vögel nisteten in den Höhlen, deren Öffnungen die Steinmetze wie Fenster und Türen geformt hatten. Totenhaus um Totenhaus reihte sich so aneinander und übereinander. Die Verstorbenen lagen im Kreise ihrer Familien, Tür an Tür mit jenen, die vielleicht schon zu Lebzeiten ihre Nachbarn gewesen waren.
Mahalea schüttelte den Kopf. Welch sinnloser Brauch. Als ob die Menschen nicht gewusst hätten, dass ihre Seelen von den Seelenfängern ins Schattenreich gezerrt wurden und sich dort in Vergessen auflösten.
Doch war es wirklich so? Woher nahm sie eigentlich ihr Wissen darüber, was mit den Menschen nach deren Tod geschah? Jeder glaubte, die Wahrheit zu kennen, doch war jemals ein Mensch aus dem Nichts zurückgekehrt, um davon zu berichten? Nun standen die Menschen plötzlich aus ihren Gräbern auf, doch sie hüllten sich in Schweigen, behielten das Geheimnis ihrer Rückkehr für sich. Waren diese Körper nur Marionetten eines fremden Willens? Sklaven finsterer Magie? Oder steckten die Seelen der Verstorbenen selbst dahinter? Dieser Kampf wäre so viel leichter zu führen, wenn wir mehr wüssten.
Ihr Blick blieb an einer Felsformation hängen, die auffallend gleichmäßig aussah. »Das könnte es sein«, murmelte sie und lenkte Sturmfeder in einem Bogen tiefer, um den Hügel genauer zu betrachten. Schatten verschoben sich, Konturen traten deutlicher hervor. Unzählige eckige Öffnungen klafften in dem Hang. Von vorne sah es aus, als hätten Riesen aus den Totenhäusern eine verschachtelte Pyramide errichtet, doch von der Seite war der ursprüngliche Hügel noch zu erkennen.
Still lag die Totenstadt im Mondlicht da. Die Tiere hatten diesen Landstrich längst verlassen. Aber zahllose Untote? Mahalea ließ Sturmfeder noch niedriger kreisen. Wenn es tatsächlich so viele waren, hätten dann nicht auch einige deutlich sichtbar im Mondlicht herumlaufen müssen? Entweder hatten die Späher übertrieben oder …
Doch zu viele Leben standen auf dem Spiel, um vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Die Wiedergänger konnten sich in den Grabkammern aufhalten oder in den umliegenden Wäldern nach Feinden suchen. Mahalea lenkte den Greif zu dem Absatz vor dem obersten Totenhaus und bedeutete ihm mit einem Klopfen, dort zu landen. Ein guter Platz, um rasch wieder zu verschwinden, falls sie entdeckt wurde. Schon bevor Sturmfeders Klauen den felsigen Boden berührten, sprang sie von seinem Rücken und federte die Landung mit einem kurzen Aufwallen ihrer Magie ab. Auf alles gefasst zog sie ihr Schwert.
Der Greif ordnete raschelnd sein Gefieder, dann kehrte wieder Stille ein. Mahalea näherte sich einem der Fenster. Das Knirschen kleiner Steine unter ihren Sohlen war das einzige Geräusch. Mit erhobener Klinge beugte sie sich vor und warf einen Blick in die Grabkammer. Durch die Tür fiel genug Licht, um zu erkennen, dass der Raum leer war. Hellere und dunklere Flecken deuteten einstige Wandmalereien an. Ein breiter Sims gegenüber der Tür hatte vielleicht einst einen Leichnam beherbergt.
Mahalea
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