Der letzte Krieger: Roman
von dieser Stelle aus erblickt hatte, waren Drachen für ihn noch Fabeltiere gewesen, Ungeheuer, die es nur an den Rändern der Welt gab, um von Helden erlegt zu werden. Die weißen Mauern Theroias hatten in der Sonne geleuchtet. Auf der Spitze des Hügels hatte das goldene Dach des Palasts geglänzt. Wie Ameisen waren die Menschen und Karren durch die Tore hinaus- und hineingeströmt, und darüber hatten die Banner der Adelshäuser und des Königs geweht.
Er spürte einen Stich in der Brust. Nichts war von der einstigen Pracht geblieben. Wie ein grauschwarzer Fels ragte die Anhöhe in den wolkenverhangenen Himmel. Nichts rührte sich zu ihren Füßen. Selbst die Wiesen und Bäume verschwammen in fahlem Braun. Theroia war tot. Bis zum Ufer reichte die trostlose Landschaft, doch auch diesseits des Flusses durchzogen braune Ausläufer das sommerliche Grün. Hadons Hauch strich über das Land, um alles Leben zu verschlingen.
»Was wir gesehen haben, lässt nur einen Schluss zu«, befand Mahalea. »Nicht nur das Heer der Untoten, auch das Nichts selbst breitet sich aus.«
Die Erhabene, neben der sie ritt, nickte ernst. »Vielleicht stimmt es, was der Mensch Davaron erzählt hat. Durch den Schwur dieses toten Königs hat das Nichts Einlass in die Welt gefunden. Es ist gut, dass wir hierhergekommen sind. Wir müssen dieses Unheil um jeden Preis aufhalten.«
»Umso mehr wünschte ich, wir hätten die Lage bei Nacht erkunden können«, bedauerte Mahalea und verfluchte im Stillen noch einmal die ständigen Stürme. Nach ihrer erzwungenen Landung hatten sich Elidian und sie mit den Greifen zu Fuß durch das Unwetter gekämpft, immer am Fluss entlang. Schließlich waren die Böen verebbt, Blitze und Donner gen Westen abgezogen, doch dafür hatte heftiger Regen eingesetzt. Selbst wenn es ihnen möglich gewesen wäre zu fliegen, die Greife hätten sich geweigert, auch nur die Flügel zu spreizen, und sich stattdessen unter einem Baum zusammengerollt.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die schlimmsten Überraschungen gefasst zu sein«, stellte die Erhabene fest. »Immerhin wissen wir jetzt, wie die zerstörte Stadt beschaffen ist und dass die Toten tagsüber ruhen.«
»Jedenfalls jene, die auf den Straßen lagen«, schränkte Mahalea ein. Sie hatte Theroia mehrmals umkreist und dabei etliche Leichen zwischen den Trümmern gesehen. Hätten sie schon seit zwei Jahren dort gelegen, wäre längst nichts mehr von ihnen übrig gewesen.
»Sobald wir den Sarmandara erreichen, werde ich eine Besprechung einberufen, um zu …« Ivanara verstummte und hob den Blick.
Ein Greifenreiter flog auf sie zu, landete so nah, dass das Pferd der Erhabenen scheute. Mahalea erkannte eine Grenzwächterin aus Nehora. Die Frau sprang von ihrem Greif und eilte auf sie zu. Ivanara hob eine Hand, um den Heerzug hinter ihnen anzuhalten.
»Wartet!«, rief Mahalea nach vorn, um den Anschluss an die Vorhut nicht zu verlieren.
»Ich bitte um Verzeihung, Erhabene.« Die Miene der Späherin verriet ihre Aufregung. »Aber ich wollte Euch so schnell wie möglich berichten. An einer Kreuzung stieß ich auf zahlreiche riesige Fußspuren und bin ihnen gefolgt. Es sind die Trolle, Erhabene! Ich habe sie aus der Luft gesehen. Ein ganzes Heer marschiert auf Theroia zu!«
Einen Augenblick lang konnte Mahalea die Späherin nur sprachlos ansehen. Auch Ivanara schienen die Worte zu fehlen. Mahaleas Gedanken rasten dagegen umso schneller. Um bereits hier zu sein, hatten die Trolle sogleich nach ihrer Befreiung aufbrechen müssen. Waren sie hier, um sich zu rächen, oder hatten auch sie erkannt, dass die Untoten der schlimmere Feind waren, der zuerst beseitigt werden musste?
»Danke, Grenzwächterin«, ergriff die Erhabene das Wort. »Das sind in der Tat bedeutende Neuigkeiten. Sie haben sich also bewaffnet und bewegen sich auf Theroia zu?«
»Sie führen Keulen und Speere mit sich und folgen der Straße, die in die Ebene hinunterführt.«
»Hattest du den Eindruck, dass sie nach uns suchen?«, erkundigte sich Mahalea.
Die Späherin schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht einmal Kundschafter entdecken.«
»War ein Mann bei ihnen?«, erkundigte sich die Erhabene. »Ein Mensch auf einem unserer Pferde?«
»Nein. Ich bin zwar sehr hoch geflogen, damit sie mich nicht sehen, aber einen Reiter hätte ich ganz sicher bemerkt. Auch ein Mann zu Fuß wäre mir sicher aufgefallen. Sie laufen in sehr lockerer Formation.«
Diese undankbaren Bestien.
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