Der letzte Kuss
schnitt noch gerade rechtzeitig Rainas Gedanken ab. Raina hatte Angst, an solche Intimitäten auch nur zu denken. Es war zu lange her, seit jemand sie so gesehen hatte.
»Ich weiß, ich soll mich schonen, aber ich musste hierher kommen.« Die Gründe gab sie noch nicht preis. »Soll Einkaufen nicht gut gegen Stress sein?«
Charlotte lachte. »Wenn du es sagst.« Sie durchsuchte den Kleiderständer mit den langen seidenen Gewändern. Die junge Frau musste nicht nach der Größe fragen, da sie von allen Kundinnen die Größen im Kopf hatte, was Raina von Anfang an sehr beeindruckt hatte. Jede Kundin, die den Laden betrat, wurde von Charlotte oder Beth ganz persönlich betreut, und jede Kundin ging mit dem Gefühl, dass sie
für Charlotte die wichtigste war. Ihr Geschäft florierte, und sie hatte den beruflichen Erfolg verdient.
Privaten Erfolg verdiente sie genauso. Raina konnte es nicht ertragen, dass zwei Menschen, die so offensichtlich verliebt waren, sich auseinander lebten. Als Charlotte den Kleiderbügel aushakte und zur Kasse ging, hatte Raina sich noch nicht entschlossen, ob oder wie sie das Thema anschneiden sollte.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte Charlotte mit einem angestrengten Lächeln.
Wenn das keine Eröffnung war! Raina schüttelte den Kopf. Das musste ein Zeichen gewesen sein, dass sie Charlotte befragen durfte. Roman würde es ihr nicht übel nehmen. Nicht, sobald er glücklich mit Charlotte eine Familie gegründet hätte. Raina beugte sich über den Tresen. »Du kannst mir sagen, warum du so unglücklich aussiehst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Sofort fing Charlotte an, mit der Wäsche herumzuhantieren, riss den unteren Teil des Preisschildes ab und wickelte die luxuriöse Seide in hellrosa Seidenpapier.
Raina legte die Hand beruhigend über ihre. »Ich denke doch. Roman fühlt sich genauso elend wie du.«
»Das ist nicht möglich.« Charlotte begann die Rechnung einzutippen. »Einhundertundfünfzehn Dollar und dreiundneunzig Cent.«
Raina zog ihre Kreditkarte aus der Handtasche und legte sie auf den Tresen. »Ich versichere dir, es ist sehr wohl möglich. Ich kenne meinen Sohn. Er leidet.«
Charlotte zog die Karte durch und machte die Rechnung fertig. »Ich glaube nicht, dass du irgendetwas tun kannst, um uns zu helfen. Lass es gut sein.«
Raina schluckte schwer. Etwas in Charlottes Stimme riet
ihr, aufzuhören, aber sie brachte es nicht fertig. »Ich kann nicht.«
Zum ersten Mal, seit Raina das Thema angeschnitten hatte, blickte Charlotte sie direkt an. »Weil du dich verantwortlich fühlst?«, fragte sie sanft, ohne Boshaftigkeit, aber mit der Sicherheit derjenigen, die alles wusste.
Rainas Herz begann schneller zu schlagen – aus Besorgnis und Angst. »Warum sollte ich mich verantwortlich fühlen?«, fragte sie vorsichtig.
»Du weißt es wirklich nicht, wie?« Charlotte schüttelte den Kopf, gab ihre steife Haltung auf und ging auf Raina zu. »Komm, setz dich.«
Raina folgte ihr ins Büro und fragte sich, wieso sich das Gespräch plötzlich um sie und nicht um Romans und Charlottes Liebesaffäre drehte.
»Als du krank wurdest, waren deine Söhne sehr besorgt.«
Raina senkte die Augen, unfähig, Charlottes ernstem, besorgtem Blick zu begegnen, da sich das verfluchte Schuldgefühl wieder bemerkbar machte.
»Und zusammen beschlossen sie, dir deinen innigsten Wunsch zu erfüllen.«
»Und der wäre?«, wollte Raina wissen, unsicher, was Charlotte meinen könnte.
»Enkelkinder natürlich.«
»Oh!« Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, da Charlotte offenbar so daneben lag, und winkte mit der Hand ab. »Ausgeschlossen, dass meine Jungen mir Enkelkinder bescheren würden, egal, wie sehr ich mir das auch wünschen mag.«
»Da hast du Recht. Sie wollten es auch nicht. Aber sie hatten das Gefühl, sie müssten es tun.« Charlotte hob die Augen und blickte Raina an. »Sie haben eine Münze geworfen. Der
Verlierer war dran – zu heiraten und mit irgendeiner Frau ein Baby zu bekommen. Roman hat verloren.« Sie zuckte die Schultern, aber ihr Schmerz war greifbar, umgab sie beide. »Ich war die nächstbeste Kandidatin.«
Empörung stieg in Raina hoch, aber ihr Herz verkrampfte sich mit mehr als dem Schuldgefühl. Sie hatte beabsichtigt, ihre Jungen zu ihrem Glück zu zwingen, aber dabei sollten andere natürlich niemals verletzt werden. »Charlotte … Du glaubst doch nicht, dass sich Roman dir zugewandt hat, weil er der Verlierer der Wette war.
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