Der letzte Massai
ermöglichte es ihr, sich unter die Stadtleute zu mischen und die neuen Kleider von einigen Frauen zu bewundern, die mutig oder auch dumm genug waren, sich damit zu zeigen. Die Mode-Entwürfe aus London eigneten sich kaum für die praktischen Gegebenheiten des Lebens auf einer Farm, aber Katherine hatte nicht ihren Blick für schöne Mode verloren.
Sie hoffte, später am Tag Zeit zu haben, um sich mit einem kleinen Bummel über die Bazaar Street zu verwöhnen, ohne dabei etwas Bestimmtes einkaufen zu wollen. Inmitten der indischen Stände mit ihren exotischen Düften und prächtigen Stoffen würde sie vielleicht genau das finden, was ihr noch im Wohnzimmer oder in der Küche fehlte, ohne dass sie sich bisher dessen bewusst gewesen war. Dinge, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie benötigte, die aber mit einem Mal unentbehrlich waren, sobald sie sie gefunden hatte – wie etwa eine Vorrichtung zum leichteren Einfädeln oder eine spezielle Backform für Törtchen.
Doch zunächst musste sie den Mais bei Fazal abliefern, dem Händler für landwirtschaftliche Erzeugnisse, und sie lenkte das Pferd in Richtung der purpurfarbenen und gelben Fassade der Jeevanjee-Märkte.
Am Ende der Stewart Street hielt sie an. Eine große Menschenmenge hatte sich um das Gebäude des Hauptmarktes versammelt. Die Menschen standen bis auf die Straße und blockierten den Verkehr. Katherine band ihr Pferd an einen Pfosten und lief hinüber, um herauszufinden, was vor sich ging.
Die Menschenmenge bestand fast ausschließlich aus Indern. Viele der Frauen trugen elegante Seiden-
Saris
und Kopftücher, manche auch knöchellange, in der Taille gebundene Röcke, dazu eine kurze Bluse und einen
Aurhni,
einen langen Musselin-Schal, der locker um Hals und die Schultern hing. Sie erkannte diese Frauen als Angehörige der Bohra-Sekte, denn sie hatte einiges über diese Gemeinschaft von dem alten Fazal gelernt, wenn sie sich bei seinen Besuchen auf der Farm miteinander unterhielten.
Ein Sprecher hinter der Steinbrüstung des Marktgebäudes im ersten Stock, von der aus man, wie es hieß, die Gipfel des Mount Kenya und des Kilimandscharo sehen konnte, wandte sich in einer asiatischen Sprache an die Menschenmenge.
Katherine fiel auf, weil sie die einzige weiße Frau dort war. Sie erntete einige überraschte Blicke, aber die Farben und der ganze Trubel zogen sie an. Die Menge benahm sich gesittet, obgleich eine leichte Anspannung in der Luft lag.
Sie spürte, dass jemand sie vorsichtig am Arm berührte, und als sie sich umdrehte, stand Fazal an ihrer Seite. »Guten Morgen, Ma’am«, flüsterte er, nickte ihr zu und entblößte beim Lächeln große, vorstehende Zähne. Katherine mochte den alten Fazal. Er stand den gewieftesten seiner Landsleute beim Feilschen in nichts nach, war aber ein freundlicher, liebenswürdiger Mensch, der ihr schon so manches Mal geholfen hatte, ihre Erzeugnisse auf den Markt zu schaffen.
»Guten Tag, Fazal«, sagte sie und fragte sich, warum sie flüsterten. Der Mann brüllte seine unverständliche Botschaft von der Brüstung herab. Auf der Straße war es inzwischen noch lauter geworden, weil eine Gruppe von weißen Männern wütend vom gegenüberliegenden Gehweg herüberschrie.
»Ich wusste ja gar nicht, dass Sie eine Befürworterin sind.«
»Eine Befürworterin?«
»Ja, der Anliegen der Inder.«
»Und worum genau geht es bei diesen Anliegen?«
»Wir protestieren gegen die Gesetze, die verhindern, dass wir die Privilegien und die große Ehre genießen, der Britischen Ostafrikanischen Gesellschaft anzugehören.«
Dies war charakteristisch für Fazals wunderliche Art und Weise, sich auszudrücken. Katherine erfreute sich daran. Er erinnerte sie an einen Gentleman aus der alten Welt, wo, wie sie voller Wehmut hoffte, Radschas in schwelgerischer Pracht herrschten.
»Welche Privilegien?«, fragte sie.
»Grundlegende, Ma’am, das darf ich Ihnen versichern.« Fazals Kopf nickte nachdrücklich. »Das Recht, als Geschworene tätig zu sein. Das Recht, Waffen zu tragen – nicht etwa, dass ich das wollte, oh, nein. Und um Sitze für indische Abgeordnete im Legislativrat.«
Die Gruppe Weißer – dem Anschein nach Siedler – schrie nun nicht mehr länger nur den Redner an, sondern auch die Menge. Die Feierstimmung begann zu schwinden.
»Tut mir leid, Fazal, worum ging es zuletzt? Um den Legislativrat?«
»In der Tat. Zwölftausend Inder haben nur einen Sitz im Legislativrat, wohingegen die Europäer, deren
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