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Der letzte Polizist: Roman (German Edition)

Der letzte Polizist: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Polizist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Winters
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sei nicht zu Hause, er mache Überstunden, einer von ihnen mache heutzutage immer Überstunden. Erik Littlejohns nicht konfessionsgebundener Gottesdienst finde jetzt nicht mehr nur gelegentlich, sondern jeden Abend statt, und es nähmen so viele Angehörige des Krankenhauspersonals daran teil, dass er die kleine Kapelle im Keller geschlossen und einen Hörsaal oben übernommen habe. Sophia redet, nur um zu reden, das ist klar, ein letzter Abwehrversuch auf der Torlinie, um dieses Gespräch zu vermeiden, und ich denke, so müssen Peters Augen ausgesehen haben, als er noch am Leben war: vorsichtig, analytisch, berechnend, ein wenig traurig.
    Ich lächle, rutsche im Sessel herum und warte, bis sie allmählich verstummt, und dann kann ich meine Frage stellen, die in Wirklichkeit eher ein Aussagesatz als eine Frage ist. »Sie haben ihm Ihren Rezeptblock gegeben.«
    Sie senkt den Blick auf den Teppich, eine endlose Reihe kleiner, zarter Paisleymuster, dann schaut sie mich wieder an. »Er hat ihn gestohlen.«
    »Ah«, sage ich. »Okay.«
    Als ich mit meinem verletzten Gesicht im Krankenhaus war, habe ich eine Stunde lang über diese Frage nachgedacht, bevor mir diese Möglichkeit in den Sinn kam, und auch dann war ich mir noch nicht sicher. Ich musste meine Freundin, Dr. Wilton, fragen, die selber nachsehen musste: Dürfen Hebammen Rezepte ausstellen?
    Sie dürfen, wie sich herausstellt.
    »Ich hätte es Ihnen eher sagen sollen, und es tut mir leid«, sagt sie leise.
    Draußen vor der Verandatür, die das Wohnzimmer mit dem Außenbereich verbindet, sehe ich Kyle und einen anderen Jungen, beide in Schneeanzügen und Stiefeln, in der unirdischen Helligkeit der Gartenbeleuchtung mit einem Teleskop herumblödeln. Im letzten Frühling, als das Einschlagsrisiko noch im einstelligen Bereich lag, kam Astronomie auf einmal groß in Mode, alle interessierten sich plötzlich für die Namen der Planeten, ihre Umlaufbahnen, ihre Entfernungen voneinander. So wie jedermann nach dem 11. September wissen wollte, wie die Provinzen Afghanistans hießen und worin die Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten bestanden. Kyle und sein Freund haben das Teleskop einer neuen Verwendung als Schwert zugeführt und schlagen sich abwechselnd zum Ritter, auf den Knien liegend, im vorabendlichen Mondschein kichernd.
    »Es war im Juni. Anfang Juni«, beginnt Sophia, und ich wende mich ihr wieder zu. »Peter hat mich aus heiterem Himmel angerufen und gesagt, er würde gern mit mir zu Mittag essen. Ich antwortete, das sei eine reizende Idee.«
    »Sie haben in Ihrer Praxis gegessen.«
    »Ja, richtig.«
    Sie aßen, brachten sich gegenseitig auf den neuesten Stand und hatten überhaupt ein wundervolles Gespräch, Bruder und Schwester. Sie unterhielten sich über Filme, die sie als Kinder gesehen hatten, über ihre Eltern, über das Erwachsenwerden.
    »Solche Sachen eben, verstehen Sie. Familienkram.«
    »Ja, Ma’am.«
    »Es war alles richtig nett. Das hat mich wahrscheinlich am meisten verletzt, Detective, als mir klar wurde, was er wirklich im Sinn gehabt hatte. Wir haben uns nie sehr nahegestanden, Peter und ich. Dass er mich einfach so aus dem Nichts heraus anruft? Ich weiß noch, dass ich dachte, wenn dieser Wahnsinn vorbei ist, werden wir vielleicht Freunde. Wie es Geschwister sein sollen.«
    Sie hebt die Hand und wischt sich eine Träne aus dem Auge.
    »Damals war die Wahrscheinlichkeit noch sehr gering. Da konnte man noch so denken – wenn das alles vorbei ist .«
    Ich warte geduldig. Mein blaues Buch liegt aufgeschlagen auf meinem Schoß.
    »Wie dem auch sei«, sagt sie. »Ich stelle nur selten Rezepte aus. Wir arbeiten weitgehend ganzheitlich, und falls doch einmal Medikamente ins Spiel kommen, dann während der Wehen und der Entbindung, nicht durch Verschreibungen im Verlauf der Schwangerschaft.«
    Deshalb dauerte es viele Wochen, bis Sophia Littlejohn merkte, dass einer ihrer Rezeptblöcke von dem Stapel in der oberen rechten Schublade ihres Schreibtischs in der Praxis fehlte. Und weitere Wochen, ehe sie sich zusammenreimte, dass ihr schüchterner Bruder ihn bei ihrem netten Wiedersehens-Mittagessen gestohlen hatte. Während dieses Teils der Geschichte hält sie inne, schaut an die Decke, schüttelt voller Selbstvorwurf den Kopf; und ich sehe Peter, den sanftmütigen Versicherungsmenschen, in seinem tollkühnen Augenblick: Er hat seine schicksalhafte Entscheidung getroffen, nachdem Maia die 12,375er-Schwelle überschritten hat, und nun bietet er

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