Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
etwas derart Klischeehaftes gesagt hätte. Meine Erinnerung ist verschwommen – es war eine schwierige Zeit.
Am 10. Juni desselben Jahres fanden sie die Leiche meines Vaters in seinem Büro in St. Anselm’s, wo er sich mit der Zugschnur der Jalousie erhängt hatte.
Ich hätte Naomi die ganze Geschichte über meine Eltern erzählen sollen, die Wahrheit, aber ich habe es nicht getan, und jetzt ist sie tot, und ich kann es nie mehr tun.
5
Es ist ein schöner Morgen, obwohl es schon etwas Kränkendes hat, wie der Winter plötzlich aufhört, einfach so, und der Frühling beginnt – Rinnsale geschmolzenen Schnees und grüne Grasbüschel, die sich durch die rasch dünner werdende Schneeschicht auf dem Feld vor meinem Küchenfenster schieben. Rein polizeitechnisch bedeutet das Ärger. Der Anbruch des letzten Frühlings, der uns vergönnt ist, wird wie schwarze Magie auf die Stimmung der Menschen wirken. Wir können mit noch stärkeren Verzweiflungsschüben rechnen, mit neuen Wellen der Angst und des vorweggenommenen Kummers.
Fenton hat gesagt, wenn sie es hinbekäme, würde sie mich um neun Uhr anrufen und mir den Befund durchgeben. Es ist acht Uhr vierundfünfzig.
Eigentlich brauche ich Fentons Befund gar nicht. Brauche die Bestätigung nicht, meine ich. Ich habe recht, und ich weiß, dass ich recht habe. Ich weiß, dass ich den Fall gelöst habe. Aber der Befund wird helfen. Vor Gericht wird er nötig sein.
Ich beobachte eine perfekte weiße Wolke, die über das Blau des Morgens segelt, und dann klingelt Gott sei Dank das Telefon, und ich reiße den Hörer von der Gabel und melde mich.
Keine Antwort. »Fenton?«
Ein langes Schweigen, tiefes, grollendes Atmen, und ich halte die Luft an. Er ist es. Der Mörder. Er weiß Bescheid. Er spielt mit mir. Heiliger Bimbam.
»Hallo?«, sage ich.
»Ich hoffe, Sie sind zufrieden, Officer – Verzeihung, Detective.« Ein geräuschvolles Husten, ein Klimpern, Eis in einem Glas Gin, und ich hebe den Blick zur Decke und stoße die Luft aus.
»Mr. Gompers. Im Moment passt es mir gerade schlecht.«
»Ich habe die Ansprüche gefunden«, sagt er, als hätte er mich nicht gehört. »Die geheimnisvollen fehlenden Ansprüche, die ich für Sie suchen sollte. Ich habe sie gefunden.«
»Sir.« Aber er wird nicht aufhören, und ich hatte ihm ja auch erklärt, er hätte vierundzwanzig Stunden, also ist er nun am Telefon und erstattet mir Bericht, der arme Kerl. Ich kann nicht einfach auflegen. »Okay«, sage ich.
»Ich bin an den Schrank mit der Nachtpost gegangen und habe diese Serie von Fallnummern rausgezogen. Es ist aber nur ein einziger mit Zells Namen dabei. Das wollten Sie doch wissen, oder?«
»Genau.«
In seiner Stimme schwappt betrunkener Sarkasmus. »Hoffentlich. Denn es wird alles genau so kommen, wie ich es gesagt habe. So wie ich es gesagt habe.«
Ich schaue auf die Uhr. Acht Uhr neunundfünfzig. Was Gompers mir erzählt, spielt keine Rolle mehr. Es hat auch nie eine Rolle gespielt. Bei diesem Fall ging es nie um Versicherungsbetrug.
»Ich sitze im Konferenzraum in Boston und wühle mich durch die Nachtpost, und wer kommt reingeschlichen? Niemand anders als Marvin Kessel. Wissen Sie, wer das ist?«
»Nein, Sir. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Hilfe, Mr. Gompers.«
Es ging nie um Versicherungsbetrug. Nicht mal eine Sekunde lang.
»Zu Ihrer Information: Marvin Kessel ist der stellvertretende Regionalmanager für die Mittelatlantikstaaten und den Nordosten, und er war ungemein interessiert daran, was zum Teufel in Concord vorgeht. Und jetzt weiß er es, jetzt weiß es Omaha, bei uns gibt es fehlende Akten, bei uns gibt es Selbstmorde. Bei uns gibt es alles!« Er klingt wie mein Dad: weil es Concord ist!
»Also werde ich jetzt meinen Job verlieren, so wie alle anderen in dieser Filiale, die werden auch ihre Jobs verlieren. Dann stehen wir allesamt auf der Straße. Also, ich hoffe, Sie haben einen Stift zur Hand, Detective, denn ich habe die Informationen.«
Ich habe einen Stift, und Gompers gibt mir die Informationen. Der Anspruch, den Peter zum Zeitpunkt seines Todes bearbeitete, wurde Mitte November von einer Ms. V.R. Jones eingereicht, Direktorin des OpenVista Institute, einer im Staat New Hampshire eingetragenen gemeinnützigen Organisation. Die Zentrale befindet sich in New Castle an der Küste, in der Nähe von Portsmouth. Es war eine Lebensversicherungs-Police für den geschäftsführenden Direktor, Mr. Bernard Talley; Mr. Talley beging im März Selbstmord,
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