Der letzte Schattenschnitzer
ihm durch den Garten fahren. Damit das Querkraut einmal sieht, dass es auch andere gibt, die einen kaputten Schatten haben …«
Mein Herr, der spürte, wie er selbst zeitlebens einen anderen Schatten werfen würde als die Menschen um ihn herum, gedachte der Ausgestoßenen und Abseitigen. Und ich ahnte, dass ich recht daran tat, die Regeln zu brechen, um ihn zu lehren, was noch keiner vor ihm gelernt hatte.
Und spielerisch lernte Jonas Mandelbrodt, Kind das er war, mit den Mächten der Schatten umzugehen. Und wohlwollend schaute ich zu ihm auf, ermahnte und ermutigte ihn und war ihm – wenn auch nur ein Schemen – mehr ein Vater als all die Männer, die im Haus seiner Mutter kamen und gingen.
Andere Kinder, egal ob sie zu Boden starrten oder nicht, fürchteten meinen Herrn. Denn er sprach nicht ihre Sprache, dachte nicht in den Bahnen ihres Denkens. Nur ein Einziger war unter ihnen, der Jonas auf seine eigene Weise zugetan war: Norman. Er war im gleichen Alter wie mein Schützling, und der einzige Grund, weshalb er Jonas nicht fürchtete, war womöglich, dass er einfach zu dumm dafür war. Der Knabe wog fast doppelt so viel wie mein Herr und war ihm aus unerfindlichen Gründen in ebenso freundschaftlicher Weise zugetan wie einstmals Enkidu dem Gilgamesch. Norman war Jonas im Kindergarten ein beinahe ebenso treuer Schatten wie ich selbst und bewahrte ihn dort nicht selten vor dem grausamen Treiben der Burschen, die sich an denen abreagieren, die schwächer sind als sie.
Wäre nicht der kleine dicke Norman gewesen, Jonas Mandelbrodt hätte sich schon früh unbedacht als einer zu erkennen gegeben, der zu Größerem imstande war als lediglich dazu, Sandburgen zu zerstören … Hätte sein Freund die anderen nicht zurückgehalten, hätte Jonas seine Peiniger irgendwann den Zorn der Schatten schmecken lassen.
Besagter Norman war bald schon ebenso häufig in unserem Haus zu Gast wie wir in seinem. Im Gegensatz zu Ruth hatte Normans Mutter jedoch einen Mann, den sie kraft eines Ringes und des Christenglaubens an sich gekettet hatte. Die drei wirkten wie eine Familie, deren ganzheitlichem Glück nicht einmal die Beschränktheit ihres Sohnes entgegenzustehen schien. Sie hatten sich eine makellose Welt geschaffen, besaßen ein Haus, ein Fortbewegungsmittel, und beide Elternteile gingen einer geregelten Beschäftigung nach.
Sie schienen glücklich, wie es nur wenige andere in ihrer Umgebung waren.
Ihre Schatten aber sprachen eine andere Sprache. Als ich ihre Schatten streifte, wusste ich um die Geheimnisse ihrer Herren. Wusste, mit wem er schlief, um sie vergessen zu können, was für Mittel sie sich verschreiben ließ, um ihn nicht ertragen zu müssen, und dass – abgesehen von ihrem Kind – nichts von dem, was sie besaßen, wirklich ihnen gehörte. Und selbst Norman gehörte ihnen genaugenommen nur zur Hälfte, da er – wie ich durch die Schatten erfahren musste – nicht der Sohn seines vermeintlichen Vaters, sondern vielmehr der von dessen Bruder war. Da ich um all das wusste, wusste es auch mein Herr und ahnte bereits fünf Sommer nach seiner Geburt, dass der Mörtel, der die Welt der Menschen zusammenhält, zu gleichen Teilen aus Lüge und Eitelkeit besteht. Während also alle Nachbarn und Bekannten Normans Eltern die Vollkommenheit ihres Lebens neideten, pflegten wir mit ihrem Sohn eine Freundschaft, wie sie wahrhaftiger nicht sein konnte. Norman Cupido Fiedler wurde unser einziger menschlicher Vertrauter, der mit leuchtenden Augen dabei zusah, wie Jonas Mandelbrodt heimlich die Schatten von seinen Spielzeugen trennte, um ihnen seinen Willen aufzuzwingen.
Und so waren es nun also ein dicker dummer Knabe, der Schatten eines Teddybären und ein alter Hund, die um den eigensinnigen Bund wussten, den ich alter Schatten mit Jonas Mandelbrodt geschlossen hatte.
Wir sammelten Verbündete.
Nach dem Vorfall in Kutna Hora hatte der Mann mit der silberrandigen Brille sich in ein Hotel in einem der Prager Randbezirke zurückgezogen. Der falsche Schatten war verloren. Und was ungleich schlimmer war, er ging davon aus, dass sie bemerkt worden waren. Der Rat hatte seine Spione überall.
Bevor er verschwunden war, hatte sein Herr das Zimmer mithilfe von Schattenmagie getarnt, um es für die Wahrnehmung der Ratsspione unsichtbar zu machen. Solange der Mann sich also ruhig verhielt, würden sie ihn hier nicht finden.
Er erhob sich und wankte mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Bad hinüber. Er suchte einen
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